So geht Menschenwürde – sagt der Vatikan

Die aktuelle Erklärung des Vatikan mit dem Titel "Dignitas Infinita" (Unendliche Würde) will den weltweit 1,4 Milliarden Katholiken eine Richtschnur geben, wie sie beim Thema Menschenwürde denken sollen. Wenn sich die rund 21 Millionen deutschen Katholiken daran ein Vorbild nehmen, werden sie in wichtigen politisch-gesellschaftlichen Feldern keinen leichten Stand haben. Es geht um die auch hierzulande hochaktuellen Themen Abtreibung, Leihmutterschaft, Sterbehilfe oder sexuelle Selbstbestimmung.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. So sagt es Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber was bedeutet Menschenwürde? Gewiss ist damit das gemeint, was in der 75 Jahre alten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen unter Schutz gestellt (und doch allzu oft verletzt) wird. Auch Artikel 1 des Grundgesetzes erwähnt die "unveräußerlichen Menschenrechte". Der Vatikan wird nun konkreter. Und erklärt, was aus seiner Sicht unter Menschenwürde zu verstehen ist. Vor allem: welches politische, gesellschaftliche Handeln gegen die Menschenwürde verstoße.

Fünf Jahre lang hat man in Rom an einem etwas mehr als 20 Seiten starken Papier gefeilt. Eine Art Leitlinie, gerichtet an die weltweit rund 1,4 Milliarden Katholiken. Darin: Selbstverständlichkeiten, katholischer Dogmatismus, aber durchaus auch politische Einmischung. In einem Vorwort der Erklärung mit dem Namen "Dignitas infinita" schreibt Víctor Manuel Kardinal Fernández, Präfekt im Vatikan, das Papier wolle Denkanstöße bereitstellen. Denkanstöße, "die uns helfen, diese Thematik in der komplexen geschichtlichen Situation, in der wir leben, im Auge zu behalten, damit wir uns inmitten so vieler Sorgen und Ängste nicht verirren und uns nicht noch mehr zerreißenden und tiefen Leiden aussetzen."

Vieles von dem, was insbesondere im abstrakt-einleitenden Text gesagt wird, dürften die allermeisten Deutschen unterschreiben, auch wenn sie nicht der katholischen Kirche angehören. Da geht es um die Verwerflichkeit von Kriegen (die Rede ist von einem "dritten Weltkrieg in Abschnitten"). Um die Notwendigkeit von Artenschutz. Um die Bekämpfung der Klimakrise oder auch um die Verurteilung der Todesstrafe und die Menschenrechte von Migranten.

Auch wird auf die Schattenseiten hingewiesen, die die Digitalisierung mit sich bringe. Da heißt es: "In der digitalen Kommunikation will man alles zeigen, und jeder Einzelne wird auf anonymem Weg zu einem Objekt, das bespitzelt, entblößt und in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Die Achtung vor dem anderen bröckelt, und auf diese Weise – gerade wenn ich ihn verdränge, ihn nicht beachte und auf Distanz halte – kann ich ohne irgendeine Scham bis zum Äußersten in sein Leben eindringen". Dabei werden gleichzeitig die Möglichkeiten der Begegnung gepriesen, die das Internet biete. Und wer hat diese geschaffen? Der Vatikan weiß es: das Internet sei schließlich ein "Geschenk Gottes".

Es gibt eine Reihe von Themen, für die das päpstlich abgesegnete Papier der katholischen Kirche den rund 21 Millionen Deutschen unter ihren Schäfchen einen Weg weist, was diese zu politisch und gesellschaftlich heiß diskutierten Themen zu denken haben. Von Abtreibung über Sterbehilfe, von Leihmutterschaft bis zu geschlechtlicher Selbstbestimmung reichen die Vorgaben an die eigene Gefolgschaft.

Thema Abtreibung

Beim Thema Schwangerschaftsabbruch platzt das päpstliche Papier in eine Zeit, in der die politische Diskussion wieder hochkocht. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertinnenkommission empfiehlt eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Die derzeitigen Regelungen im Strafgesetzbuch hielten einer "verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und europarechtlichen Prüfung" nicht Stand. Stattdessen müssten Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen grundsätzlich als rechtmäßig gelten.

Die katholische Kirche sieht das weiterhin ganz anders. In "Dignitas infinita" heißt es: Menschliches Leben zwischen Empfängnis und Geburt sei "immer etwas Heiliges und Unantastbares, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen. Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen".

Thema Leihmutterschaft

Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission schlägt auch beim Thema der in Deutschland verbotenen Leihmutterschaft eine vorsichtige Liberalisierung vor. Eine Legalisierung sei unter engen rechtlichen Voraussetzungen möglich. Zentral wäre etwa, dass eine Ausbeutung der Leihmutter rechtlich verhindert werde. Auch die Vermittlung der Leihmütter müsse uneigennützig und daher nicht-kommerziell organisiert werden. Voraussetzung sei, dass Eltern und Leihmutter sich zum Beispiel durch ein familiäres Verhältnis kennen oder eine Vereinbarung treffen, dass eine Beziehung zwischen beiden Parteien noch über die Geburt hinaus bestehe.

In dem päpstlichen Papier wird das ganz anders gesehen: Die Kirche wendet sich gegen die Praxis der Leihmutterschaft, durch die das unermesslich wertvolle Kind zu einem bloßen Objekt werde. Papst Franziskus wird in dem Schreiben so zitiert: "Ich halte die Praxis der sogenannten Leihmutterschaft für verwerflich, da sie die Würde der Frau und des Kindes schwer verletzt. Sie basiert auf der Ausnutzung der materiellen Notlage der Mutter. Ein Kind ist immer ein Geschenk und niemals ein Vertragsgegenstand." Das Kind habe kraft seiner unveräußerlichen Würde "das Recht auf eine vollständig menschliche und nicht künstlich herbeigeführte Herkunft und auf das Geschenk eines Lebens, das zugleich die Würde des Gebers und des Empfängers zum Ausdruck bringt".

Thema Sterbehilfe

Im Vatikan-Papier wird der Suizid gar in einem Atemzug mit Mord und Völkermord genannt, wenn es heißt: "So muss zur Kenntnis genommen werden, dass gegen die Menschenwürde steht, was zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord".

In Deutschland sieht die Mehrheit das ganz anders. So hat 2023 eine Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos gezeigt, dass 55 Prozent es begrüßen, wenn Ärzte und Sterbehilfeorganisationen beim Suizid assistieren. Und das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 deutlich gesagt: "Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren."

Ganz anders die katholischen Vordenker im Vatikan: Dem Suizidenten zu helfen, sich das Leben zu nehmen, sei ein objektiver Verstoß gegen die Würde der Person, die darum bittet, selbst wenn dies die Erfüllung ihres Wunsches ist: "Wir müssen zum Tod begleiten, nicht den Tod herbeiführen oder Beihilfe zu irgendeiner Form des Selbstmords leisten."

Sexuelle Selbstbestimmung

Beim Thema sexuelle Selbstbestimmung gibt sich das Vatikanpapier zunächst gönnerhaft, wenn es dort heißt: "Die Kirche möchte vor allem bekräftigen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll und sorgsam zu vermeiden ist, ihn 'in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen' oder ihm gar mit Aggression und Gewalt zu begegnen". Doch dann kommen die katholischen Autoren auf ein in Deutschland hochaktuelles Thema zu sprechen, das der Bundestag soeben so geregelt hat: Für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen soll es einfacher werden, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und ihre Vornamen ändern zu lassen. Die Änderung soll in Zukunft durch eine Erklärung gegenüber dem Standesamt vorgenommen werden können. Eine gerichtliche Entscheidung über die Antragstellung soll nicht mehr erforderlich sein. Auch die frühere Notwendigkeit zur Einholung zweier Sachverständigengutachten soll entfallen.

Der Vatikan hat hier eine abweichende Meinung. "Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet nichts anderes, als der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen. Deshalb sind alle Versuche abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern: Man kann das, was männlich und weiblich ist, nicht von dem Schöpfungswerk Gottes trennen, das vor allen unseren Entscheidungen und Erfahrungen besteht und wo es biologische Elemente gibt, die man unmöglich ignorieren kann". Das Menschsein sei so zu akzeptieren und zu respektieren, wie es erschaffen worden ist. "Daraus folgt, dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt." Immerhin wird gesagt: "Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann. In diesem Fall würde die Operation keine Geschlechtsumwandlung in dem hier beabsichtigten Sinne darstellen."

Sexueller Missbrauch

Dem sexuellen Missbrauch widmet die seit Jahren von dem Thema heftig erschütterte katholische Kirche in dem Papier nur diese kargen Zeilen: "Die tiefe Würde, die dem Menschen seiner Gesamtheit von Geist und Körper innewohnt, ermöglicht es uns auch zu verstehen, warum jeder sexuelle Missbrauch tiefe Narben im Herzen derjenigen hinterlässt, die ihn erleiden, und wirklich, sie fühlen sich zutiefst in ihrer Menschenwürde verletzt. Es handelt sich hierbei um ein Leid, das ein Leben lang andauern und durch keine Reue geheilt werden kann. Dieses Phänomen ist in der Gesellschaft verbreitet, es betrifft auch die Kirche und stellt ein ernsthaftes Hindernis für ihre Sendung dar. Daher setzt sie sich unermüdlich dafür ein, allen Arten von Missbrauch ein Ende zu setzen, und zwar beginnend im Inneren der Kirche."

Missbrauch durch kirchliche Amtsträger als "ernsthaftes Hindernis für die Sendung der Kirche" – in der Tat, die Kirchenaustrittszahlen belegen, dass viele "die Sendung" längst ausgeschaltet haben.

Die Erklärung "Dignitas Infinita" im Wortlaut findet sich hier.

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