Hosianna, es ist ein Wunder!

Ostern ist es wieder soweit: Es wird die Auferstehung eines Menschen von den Toten gefeiert. Ein Musterfall dessen, was man gemeinhin als Wunder bezeichnen würde. Doch der Wunderglaube gerät bei den Deutschen aus der Mode: Auf die Frage, ob sie an Wunder glauben, hatten bei einer Umfrage des "Allensbach"-Instituts für Demoskopie im Jahr 2006 noch 56 Prozent mit "Ja" geantwortet. 2020 fragte das Forschungsinstitut "Consulere" nochmal die Wundergläubigkeit der Deutschen ab. Da waren es nur noch 29 Prozent, die glauben, "dass Gott auch heute noch Wunder vollbringt".

Ein Wunder – das wird auf der Internetseite der evangelischen Kirche so definiert: "Ein unerklärliches Phänomen, das gläubige Menschen als Zeichen der Gegenwart Gottes und seines Handelns sehen." Die Bibel ist voll von Wundern. Da wird Wasser in Wein verwandelt, Blinde können wieder sehen, Taube wieder hören. Jesus ersteht von den Toten auf. Lange her. Doch auch heute glaubt manch ein Zeitgenosse, es gebe Wunder.

Im Dom von Neapel zum Beispiel werden zwei Fläschchen aufbewahrt. Sie sollen das getrocknete Blut des heiligen Januarius enthalten. Dreimal im Jahr trägt der Erzbischof die Reliquie zu den Gebeinen des Märtyrers, dreht sie, wendet sie. Gespannt verfolgen die Gläubigen die Zeremonie: Wechselt die Farbe des Blutes von braun zu rubinrot und verflüssigt sich dieses, so gilt das als Zeichen, dass der nahe gelegene Vesuv ruhig bleibt. Längst haben Chemiker die Sache nachgespielt. Nach dem Motto "Das Blutwunder von Neapel – selbst gemacht". Weil diesem Wunder offenbar so leicht auf die Schliche zu kommen ist, behandelt man es auch in Rom eher naserümpfend. Radio Vatikan vermeldet es immer nur in einer distanzierten Meldung. Im Konjunktiv.

Warum aber die Zurückhaltung, wo doch der Glaube auch und gerade von Wundern lebt? Oder wie schon Goethe anmerkte: "Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." Die kirchliche Zurückhaltung ist indes verständlich. Denn wird ein Wunder entzaubert, so rüttelt dies auch an der Glaubhaftigkeit anderer Wunder. Wunder aber braucht die Kirche. Und bei einem solchen wie dem in Neapel liegt die Entzauberung nahe, sollte es einmal ernsthaft überprüft werden.

Papst Johannes Paul II, der 1981 ein Attentat überlebt hatte, führte seine Rettung auf einen Eingriff "unserer lieben Frau von Fatima" zurück: "Eine mütterliche Hand hat die Kugel gelenkt." Wunderbar. Der britische Evolutionsbiologe und Religionskritiker Richard Dawkins hat hiergegen diesen Einwand: Es müsse dann schon die Frage erlaubt sein, warum die Kugel nicht so gelenkt wurde, dass sie den Papst völlig verfehlte. Und auch dem Chirurgenteam gebühre gewiss ein Teil des Verdienstes.

Wissenschaftlicher Fortschritt und Recherchen können behauptete Wunder entzaubern

Wenn die katholische Kirche jemanden heilig spricht, so braucht es unter anderem den Nachweis, dass der oder die Betreffende ein medizinisches Wunder vollbracht hat. Es wäre gewiss lohnenswert, unter diesem Aspekt auch mal die Aktivitäten von Ärzten und Notfallsanitätern zu beleuchten.

Wenn es Wunder gäbe, so hieße das auch, dass die Naturgesetze beliebig ein- und ausgeschaltet werden können. Warum soll dann nicht auch mal ein Baum sprechen? Nur wären das dann kaum noch Naturgesetze, wenn sie beliebig aufgehoben würden. Wundergläubige stört das freilich nicht, können sie doch argumentieren: Wenn der Schöpfer die Naturgesetze schuf, so hat er auch die Macht, sie zu durchbrechen – mit dem einen oder anderen Wunder halt.

Es ist freilich sehr bequem, Unerklärliches oder bislang Unverstandenes mit dem Wort Wunder zu etikettieren. Schon der antike Theologe Augustinus merkte skeptisch an: "Ein Wunder geschieht nicht wider die Natur, sondern wider die bekannte Weise der Natur." Will heißen: Wissenschaftlicher Fortschritt und Recherchen können behauptete Wunder entzaubern.

Der schottische Philosoph David Hume spottete: "Wer an Wunder glaubt, der ist sich eines fortgesetzten Wunders in seiner eigenen Person bewusst, das alle Prinzipien seines Verstandes umkehrt und ihn bestimmt, das zu glauben, was der Erfahrung am meisten widerstreitet." Und wenn von Kirchen und Reiseveranstaltern damit Werbung gemacht wird, dass dieser oder jener Schwerkranke im französischen Wallfahrtsort Lourdes durch ein Wunder geheilt worden sei, dann wird unterschlagen, dass all die anderen Pilger "umsonst" dorthin gefahren sind und verbittert zurückkehrten.

Thomas Paine, ein amerikanischer Intellektueller des 18. Jahrhunderts, machte sich über den auf Zeugenaussagen beruhenden Wunderglauben lustig, als er fragte: "Was ist wohl wahrscheinlicher – dass die Natur von ihrem Kurs abkommt oder dass jemand lügt?" Die Antwort gab Paine denn auch selbst: "Wir haben noch nie gesehen, dass die Natur ihren Kurs verlässt, wohl aber wissen wir aus eigener Erfahrung, dass Millionen von Lügen erzählt werden."

Gewiss ist eine Geschichte, in der Wunder vorkommen, viel spannender als eine, die einfach nur an der schnöden Realität orientiert ist. Gerade der Reiz, eine schöne Geschichte zu erzählen, bringt "Wunder" in die Welt. Sie werden schlicht erfunden.

Die sinkende Zahl der Wundergläubigen zeigt, dass die meisten Menschen hierzulande denken, dass es im Universum "mit rechten Dingen zugeht". Dass keine Götter, Geister oder Kobolde in die Naturgesetze eingreifen. Und doch dürfen wir die Welt "wunderbar" finden. Da braucht es weder den Glauben an die Auferstehung noch an den Osterhasen. Auch das, was streng im Rahmen der Naturgesetze abläuft, kann doch ein Wunder sein. Denken wir an das "Wunder von Bern", den WM-Sieg der deutschen Fußballer von 1954. Allerdings: Für die unterlegenen Ungarn war dasselbe Spiel jedoch allenfalls ein blaues Wunder.

Menschen sind offensichtlich zum Vollbringen von Wundern fähig. Wer einmal die Große Chinesische Mauer gesehen hat, wird diesen Eindruck bestätigen. Wer sich auch darüber noch nicht wundern mag, könnte vielleicht über etwas anderes ins Staunen geraten, was wir jeden Tag als selbstverständlich hinnehmen: Da leben wir auf einer rotierenden Kugel, die mit 107.000 Stundenkilometern einen atomaren Feuerball umkreist – müssten wir uns nicht täglich darüber "wundern"?

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