Eine Zwischenbilanz

Der sexuelle Missbrauch und die katholische Kirche

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Ein Protestbündnis forderte Ende Januar 2022 in München eine Entschädigung der Opfer kirchlichen Missbrauchs und Urteile statt Gutachten.
Protestbündnis in München

Das Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche ist nicht neu. Zu viele Enthüllungen in der Vergangenheit sorgten dafür, dass die Institution das Thema nicht vom Tisch bekam. Kaum ein Bistum war hiervon ausgenommen. Seit 2010 beschäftigt das Thema die deutsche Öffentlichkeit. Die Aufarbeitung innerhalb der katholischen Kirche und die Behandlung von Missbrauchsopfern blieb aber weitgehend unsichtbar. Anlass eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Seit 2010 diskutiert Deutschland über Missbrauchsskandale in kirchlichem Zusammenhang. Bereits 2018 stellte die MHG-Studie der Katholischen Kirche fest, dass 3.677 Kinder und Jugendliche seit dem Zweiten Weltkrieg Missbrauchsopfer katholischer Geistlicher geworden sind, eine Studie, die von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht wurde. Die bitteren Zahlen der Kirchengeschichte legen offen, dass 1.670 Priester und Diakone zwischen 1946 und 2014 des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden. Eine Bilanz des Schreckens, zumal die Dunkelziffer deutlich höher liegt.

Nicht weiter verwunderlich, dass gerade in Bistümern, in denen Missbrauchsvorfälle bekannt wurden, Kirchenaustritte signifikant ansteigen. Eine Umfrage im letzten Jahr zeigt, dass in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft das Vertrauen der Menschen in Bezug auf die Kirchen abnimmt, und selbst unter katholischen Kirchenmitgliedern lediglich 4 Prozent sich als gläubig und kirchennah verstehen. Viele Kirchenmitglieder denken über einen Austritt nach, bei den Katholiken stuft die Studie 43 Prozent als "austrittsgeneigt" ein.

Es ist aber bei weitem nicht nur das erschreckend hohe Maß an Missbrauchsfällen, sondern auch die publik gewordene Art der Behandlung von Betroffenen und der innerkirchlichen Aufarbeitung, die Empörung erzeugen.

Beispiele:

Eine Missbrauchsstudie des Bistums Hildesheim benennt den ehemaligen Bischof Emil Stehle (1926-2017), der ebenfalls Leiter des katholischen Lateinamerika-Netzwerks Adveniat, Priester in Bogotá in Kolumbien, später Bischof von Santo Domingo in Ecuador war. Emil Stehle war zuvor im Erzbistum Freiburg als Priester tätig gewesen. Die Studie wirft ihm mindestens 16 Missbrauchstaten an Minderjährigen vor. Die Aktenuntersuchung der Studie der Deutschen Bischofskonferenz ergab, dass weitere sexuelle Übergriffe durch Stehle wahrscheinlich sind. Der Untersuchungsbericht der Deutschen Bischofskonferenz weist aus, dass Stehle dank seiner Position glaubte ungestraft handeln zu können und sich einfach nahm was er wollte.

Zudem ergab die Studie, dass Stehle einen ebenfalls des Missbrauchs beschuldigten Süpplinger Priester aus der Schusslinie nahm. Der Priester hatte sich wiederholt an Jungen in einer Jugendgruppe vergangen. Der Name des beschuldigten Priesters wurde durch Stehle aus den offiziellen Akten gelöscht. An dieser Identitätsfälschung war er beteiligt und half dem Beschuldigten in Paraguay unterzutauchen. Stehle soll auch Priestern aus anderen europäischen Ländern geholfen haben sich durch Flucht in lateinamerikanische Bistümer der Strafverfolgung zu entziehen. Durch Namenskodierungen, Tarnadressen und Unterhaltshilfen sorge Stehle in mehreren Fällen dafür, dass Täter verdeckt in Lateinamerika Zuflucht fanden, eine spezifische Form priesterlicher Männerbündelei. Die Verschickung von Missbrauchstätern war in dieser Zeit gängiges System in der katholischen Kirche.

Disclaimer: Dieser Artikel bezieht sich auf die Vorkommnisse der katholischen Kirche in Deutschland. Das bedeutet in keinem Fall, dass es nicht auch Vorfälle sexuellen Missbrauchs in der evangelische Kirche gibt.

Unbenommen davon wird Stehle noch heute in Ecuador verehrt wie ein Heiliger. Vor dem Busbahnhof in Santo Domingo steht bis dato eine sechs Meter hohe Statue von Emilio Lorenzo Stehle. Nachweislich hat er sich an den verschiedensten Wirkungsorten an Minderjährigen vergangen. Als vorgeblich guter Hirte tragen eine Bildungseinrichtung und eine Schule dort noch immer seinen Namen. Wick Enzler, Bischof von Santo Domingo, äußert sich zu den Tatbeständen wie folgt: "Der Himmel selbst muss die Kirche schützen vor uns, den eigenen Menschen, und wir können einfach nur demütig bleiben und versuchen, keine Steine auf andere zu werfen, sondern alle unsere Schwächen gegenwärtig zu haben und sie einzugestehen". So kann Aufarbeitung auch aussehen. Der Fall Stehle ist ein exemplarischer Fall katholischer Praxis über Jahrzehnte, zumal die kirchliche Omertà bis zur Aufdeckung der ersten großen Skandale 2010 lückenlos funktionierte.

Der frühere Trierer Bischof Hermann-Josef Spital ist nach einer Studie der Uni Münster ebenfalls in Missbrauchsskandale verwickelt. In seiner Zeit als Generalvikar im Bistum Münster bis 1980 hatte er eindeutig Kenntnis von priesterlichem Missbrauch im dortigen Bistum. Ungeachtet der Kenntnis eines verurteilten Missbrauchstäters wurde er als Priester von Spital erneut eingesetzt und keinerlei kirchliche Sanktionen folgten auf den Fuß. Der Priester hatte nach Bekanntwerden auch weiterhin Zugang zu Kindern eines Heims. Der Brief einer Frau an Bischof Spital, die als Messdienerin regelmäßig von einem Priester vergewaltigt wurde, blieb unbeantwortet. Ein Fall systematischer Verschleierung.

Auch im Bistum Mainz wurden durch Angehörige der katholischen Kirche Missbräuche bekannt. Die alleine im Jahr 2023 eingegangenen Meldungen belaufen sich auf 32 Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch Kleriker und Mitarbeiter. Die Missbrauchsstudie spricht nunmehr von 181 Beschuldigten und 401 Betroffenen. 17 der neu gemeldeten 43 Vorfälle liegen mindestens 30 Jahre zurück. Allerdings hat das Bistum mittlerweile Ansprechpersonen für Missbrauchsbetroffene benannt, die unabhängig von der Bistumsleitung arbeiten, wie mittlerweile fast jedes Bistum Stellen für Intervention und Prävention gegründet hat.

Die aufgeführten Beispiele stellen nur einen Ausschnitt der Gesamtproblematik dar.

Konsequenzen und Strategien

Angesichts der vielen, sich stetig häufender Enthüllungen war auch für die katholische Kirche klar, dass es sich um ein strukturelles Problem handelte und sie darauf reagieren musste. Unbestritten die Tatsache, dass viele Glaubensangehörige erschauderten angesichts der menschlichen Abgründe einiger ihres Kirchenpersonals, unbestritten auch die Tatsache, dass eine Reihe kirchlicher Würdenträger ernsthaft bemüht ist Betroffene und ihre Kirche vor derartigen Ungeheuerlichkeiten zu schützen.

Tatsache ist auch, dass viele betroffene Bistümer und die Deutsche Bischofskonferenz zur Aufarbeitung Recherchen und Studien in Auftrag gaben, um sich zunächst ein realistisches Bild der Missbräuche zu verschaffen, gleichermaßen wie es Kräfte innerhalb der Kirche gibt, die mit Nachdruck eine gründliche Aufarbeitung bis jetzt aussitzen und wegschauen.

Mittlerweile hat die Kirche eine Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) geschaffen, die Geldsummen als Sühne an Missbrauchsopfer festlegt und auszahlt, wenn auch oft die Höhe des Geldes in der Kritik steht.

Die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs des Erzbistums Freiburg fordert den Verzicht auf Kinderbeichten, da Kinderbeichten einen "Anbahnungsort von sexuellem Missbrauch" darstellten und eine grenzverletzende Manipulation bei Kindern und Minderjährigen ermögliche.

Zur Aufarbeitung gehöre auch das Aufbrechen abgeschotteter Priesterseminare. "Querschnittsthemen" wie sexualisierte Gewalt und Missbrauch müssten Themen im Theologiestudium sein, so die Freiburger Kommission. Die Kommission befürwortet zudem die kirchliche Aufarbeitung durch außerkirchliche Stellen kontrollieren zu lassen.

Veränderungsansätze sind vorhanden. Die Frage bleibt, ob die angestoßenen Initiativen ausreichen.

Die Positionierung bei öffentlichen Bekundungen der katholischen Kirche ist immer eindeutig: absolute Null-Toleranz gegenüber den Verbrechen sexuellen Missbrauchs, mit der Verlautbarung gründlicher Aufarbeitung. Die findet aber nicht in jedem Fall statt. Reuige Absichtserklärungen und Fragen statt fundamentaler Antworten sind keine Schritte zur Veränderung, wenn substantieller Pragmatismus fehlt. Wenn Aufarbeitung, dann fehle häufig dem Verfahren die Unabhängigkeit, so der Betroffenensprecher Johannes Norpoth. Der tatsächliche Nutzen innerkirchlicher Aufarbeitung bleibt oft hinter notwendigen Ergebnissen einer Missbrauchsaufarbeitung zurück. Schwierig wird es immer dann, wenn die Frösche ihren eigenen Teich selbst trockenlegen sollen und auf Unterstützung von außen verzichten.

Auf Initiative von Papst Franziskus wurde eine hochkarätige päpstliche Kinderschutzkommission bereits 2014 ins Leben gerufen und dem Bekunden nach zur Top-Priorität beim Kampf gegen Missbrauch erklärt. Die Gründung dieser Arbeitsgruppe sollte die Absicht des Vatikans unterstreichen den vielen Missbrauchsvorfällen entgegenzutreten. Die Arbeitsgruppe aus verschiedensten Experten hatte die Aufgabe Empfehlungen für den Umgang mit Missbrauchsbetroffenen und der Ausbildung von Kirchenpersonal zu erarbeiten und an alle Diözesen weiterzuleiten. Immer wieder fiel die Kommission aber durch internen Streit, Unstimmigkeiten und Ergebnislosigkeit auf. Bischöfliche Mitglieder wurden selbst der Vertuschung von sexuellen Übergriffen von Priestern beschuldigt; der australische Erzbischof von Sydney wurde gar selbst des Missbrauchs beschuldigt. Eine aufarbeitende Präventionsarbeit der Arbeitsgruppe aus Opfersicht war weitgehend nicht ersichtlich. Der Betroffenenvertreter Peter Saunders und später der katholische Kinderschutzexperte Hans Zollner erklärten ihren Austritt. Dass die gesamte Kirche eine durchgängige Kehrtwende gemacht habe und die Betroffenen in den Mittelpunkt stelle, davon sei die Kirche noch weit entfernt. Papst Franziskus habe das Thema in seinem Pontifikat nicht zur Priorität Nummer eins gemacht, so Zollner.

Der Kern des Problems

Dass Kirche für Minderjährige kein sicherer Ort ist, hängt zweifellos mit einer übergroßen Machtfülle bei Priestern und Bischöfen und einer fehlenden Kontrollinstanz zusammen. Obrigkeitsdenken, Abhängigkeiten, ein überhöhtes Priesterbild, strikte kirchliche Hierarchien und ein Gehorsamsversprechen sind die entscheidenden Faktoren, die sich Täter zu Nutze machen. Ein Hin zu flachen Hierarchien, der Abbau institutioneller Schranken ist aber undenkbar ohne die deutliche Entwicklung von Selbstbewusstsein des Kirchenvolks. Institution und Gläubige haben hier eine Mammutaufgabe zu stemmen. Die kindhafte Autoritätsgläubigkeit ist ein Produkt Jahrhunderte langer Erziehung durch die katholische Kirche. Die Überhöhung und die Selbstüberhöhung der Geistlichkeit haben eine lange historische Wurzel. Ohne radikale Konsequenz wird man aber nach wie vor auf der Stelle treten, und das Krebsgeschwür Missbrauch lässt sich nicht ausrotten. Wenn die Institution selbst sich als unfähig erweist, muss ihr Beine gemacht werden. Die Kirchenrechtsordnung steht auf dem Prüfstand. Ohne Inangriffnahme dieses Kern- und Herzstückes wird aus den vielen kleinen Veränderungsansätzen aber nichts werden. Diesbezüglich sind aus der katholischen Kirche aber kaum Vorschläge zu vermelden.

Parallel dazu kann es nicht sein, dass die Aufarbeitung eine rein innerkirchliche Angelegenheit bleibt, die unter Amtsbrüdern geregelt wird. Zwingend notwendig ist ein öffentlich Machen und das Einschalten staatlicher Strafverfolgungsbehörden, die die Fälle federführend und nicht peripher bearbeiten. Will man Opfern gerecht werden, ist eine Kooperation mit dem säkularen Staat unerlässlich.

Die Diskussion um islamische Parallelgesellschaften und ihre Berufung auf die Scharia vor gar nicht langer Zeit endete mit der Forderung unbedingter Akzeptanz von Grundgesetz und Strafgesetzbuch als Grundlage unserer demokratischen Gesellschaftsordnung. Was für Muslime gilt, gilt auch für die katholische Kirche, wie für alle Religionsgemeinschaften.

Sehenden Auges haben kirchliche Hierarchien mit mafiösen Zügen gehandelt und beschuldigte Priester mit dem Gesetz des Schweigens und einer verheerenden Komplizenschaft geschützt. Das Kirchenrecht muss dahin entwickelt werden, der Omertà unter Klerikern entgegenzutreten mittels drastischer Konsequenzen. Es geht hier nicht um irgend Etwas. Der belgische Bischof Roger Vangheluwe, ein geständiger Missbrauchstäter, wurde auch von Papst Franziskus aus dem Klerikerstand entlassen.

Wieso sind berufliche Sanktionen und der Entzug von Privilegien ansonsten häufig unantastbar?

Dem Fehlen der Betroffenenperspektive, dem Fehlen von Empathie mit Missbrauchsopfern muss auf allen Ebenen entgegengetreten werden, um dem extremen Auswuchs klerikaler Dominanz keine Chance zu geben.

Angesichts grauenhafter Abgründe hat die katholische Kirche seit mehr als zehn Jahren noch keinen ernstzunehmenden Paradigmenwechsel vollzogen. Noch hat die Soutane mehr Gewicht als das Gewissen.

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