US-Gericht: Embryonen sind juristisch Kinder

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Seit vergangener Woche gelten eingefrorene Embryonen im Bundesstaat Alabama juristisch gesehen als Kinder. Der Oberste Gerichtshof begründet seine Entscheidung mit einem Gesetz aus dem Jahr 1872, einem im letzten Monat verabschiedeten Verfassungszusatz und einigen Bibelstellen.

Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Urteils ist der Fall eines Paares, das befruchtete Eizellen zur späteren Verwendung in einer Fertilitätsklinik aufbewahren ließ. Ein Angestellter der Klinik ließ das entsprechende Gefäß versehentlich fallen und zerstörte so die Embryonen.

Daraufhin klagte das Paar auf Schadenersatz und Schmerzensgeld, denn nach seit 1872 gültiger Rechtslage können Menschen, die fahrlässig und schuldhaft den Tod eines minderjährigen Kindes herbeiführen, von den Hinterbliebenen haftbar gemacht werden. Das Paar argumentierte, dass Embryonen Kinder im rechtlichen Sinne seien und Ihnen daher eine Entschädigung zustehe – was der Oberste Gerichtshof schließlich bestätigte.

IVF in Deutschland und den USA: Ein einleitender Exkurs

Eingefrorene Embryonen werden im Rahmen eines Prozesses erzeugt, der als "In-Vitro-Fertilisation" (IVF) bekannt ist. Wir wollen nicht zu lange bei den technischen und juristischen Details dieses Verfahrens verweilen, doch ein kurzer Vergleich der Rechtslage in Deutschland und den Vereinigten Staaten ist für eine akkurate Bewertung des Urteils aus der Ferne von großem Vorteil.

Bei der In-Vitro-Fertilisation werden aus dem Uterus entnommene Eizellen künstlich befruchtet, wodurch Embryonen entstehen. In den USA werden typischerweise gleich dutzende Embryonen erzeugt und für einige Tage beobachtet. Nicht lebensfähige Embryonen werden verworfen, alle anderen auf Eis gelegt. Resultiert ein eingepflanzter Embryo nicht in einer Schwangerschaft, kommt der nächste zum Einsatz.

Diese Praxis ist in Deutschland illegal. Das Embryonenschutzgesetz definiert befruchtete Eizellen nicht als Kinder, verbietet es aber, absichtlich mehr Embryonen zu erzeugen, als in einem Zyklus übertragen werden können. Man spricht hierbei von der sogenannten "Dreierregel", weil üblicherweise maximal drei Eizellen auf einmal befruchtet werden.

Die deutsche Reproduktionsmedizin selbst übt einige Kritik an dieser Handhabung. Damit ist die Gesetzeslage in Deutschland nämlich restriktiver als in vielen anderen europäischen Ländern und eben auch signifikant restriktiver als in den Vereinigten Staaten – bis jetzt.

Wenn der Prophet nicht nach Alabama kommt, muss Alabama eben zum Propheten werden

Tatsächlich bezieht sich der Oberste Gerichtshof Alabamas streckenweise explizit auf die europäische Gesetzgebung, wenngleich sehr selektiv. So argumentiert der Oberste Richter Tom Parker in seiner Urteilsbegründung, dass beispielsweise Italien die kryotechnische Konservierung von Embryonen vollständig verboten habe. Soweit richtig, das war im Jahr 2004. Diesem Argument allerdings fehlt lebenswichtiger Kontext. Das entsprechende Gesetz war derart katastrophal, dass es binnen eines Jahrzehnts durch verschiedene Gerichtsurteile sowie das Einschreiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte de facto vollständig abgeschafft wurde.

Im gesamten Text der Urteilsbegründung fällt das Wort "Gott" ganze 41 mal. Diese Tatsache ist ein Indikator für einen fundamentalen Graben innerhalb der US-amerikanischen Jurisprudenz. Einerseits schreibt gleich der allererste Zusatzartikel der Bundesverfassung die Trennung von Staat und Kirche vor, andererseits hat sich Alabama diesen Januar einen per Referendum bestimmten Zusatz in die eigene Verfassung geschrieben, der als "Zusatz über die Heiligkeit ungeborenen Lebens" ("Sanctitity of unborn life amendment") bekannt ist. Parker nimmt expliziten Bezug auf die christliche Natur dieser Verfassungsänderung: "Das Volk von Alabama hat beschlossen, dass die Heiligkeit des ungeborenen Lebens Teil der öffentlichen Politik dieses Staates ist. Wir glauben, dass jeder Mensch von der Empfängnis an nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, von Ihm geschaffen, um Ihn widerzuspiegeln. Es ist, als ob das Volk von Alabama die Worte des Propheten Jeremiah auf jeden ungeborenen Menschen in diesem Staat anwendete: 'Bevor ich dich im Mutterleib formte, kannte ich dich, Bevor du geboren wurdest, habe ich dich geheiligt.'"1

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass just am 16. Februar, dem Tag der Gerichtsentscheidung, eine Ausgabe von Johnny Enlows Qanon-nahem, christlich-fundamentalistischen Vidcast erschien, in dem Parker als Gast auftritt. Der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofs Alabamas, Tom Parker, bekundete in diesem Interview unter anderem, dass "Gott den Staat erschaffen" habe.

Die rechtliche Basis für die Entscheidung bildet der 1872 erlassene und seitdem unveränderte Wrongful Death of a Minor Act ("Gesetz zur Regelung des schuldhaften Todes eines minderjährigen Kindes") und die auf ihm aufbauenden Präzedenzfälle. Das Gericht diskutiert über mehrere dutzend Seiten die Interpretation des Begriffs "Kind" anno 1872, mehr als einhundert Jahre vor Erfindung der IVF, die inhaltlichen Veränderungen, die dieser Begriff seitdem durchlaufen hat sowie die Frage, ob das Parlament von vor 150 Jahren befruchtete Eizellen wohl als "Kinder" im Sinne des vorliegenden Gesetzes betrachten würde.

Die Räson des Gerichts ist ein Paradebeispiel für die in den USA im Aufwind befindliche juristische Doktrin des "Originalismus". Hierbei werden Verfassung und Gesetze durch eine extrem enge historische Linse interpretiert, deren Fokus folgende Frage ist: "Wie würden die Menschen entscheiden, die diese Verfassung / dieses Gesetz geschrieben haben?" Diese Lesart hat ein bisschen was von spiritistischem Channeling. Statt "Was würde Jesus tun" lautet die Frage nunmehr "Was würde George Washington tun" – oder eben: "Was würde das Parlament Alabamas aus dem Jahr 1872 tun?"

Die Konsequenzen sind unabsehbar

In-Vitro-Fertilisation ist eine faszinierende Technologie. Allein die Idee, eine Eizelle außerhalb des Uterus zu befruchten, reifen zu lassen und dann wieder in den Uterus zu transplantieren, müsste jedem Menschen, der vor dem 20. Jahrhundert gelebt hat, wie Hexerei erscheinen. Die IVF ist ein gar fantastisches Beispiel für das sogenannte dritte Clark'sche Gesetz: Jede genügend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.

Zwei Prozent aller in den USA geborenen Kinder entstehen in-vitro, das entsprach im Jahr 2022 73.355 Kindern. Weltweit ist einer von sechs Menschen von Unfruchtbarkeit betroffen. Für diese Menschen ist IVF Magie. Nicht im spirituellen, sondern im emotionalen Sinne des Wortes.

Mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist der Zauber nun verflogen. Mindestens drei Kliniken, darunter das größte Krankenhaus des Bundesstaats, kündigten nur wenige Tage nach der Entscheidung an, IVF vorerst auszusetzen. Grund sei die dringende Notwendigkeit der Neuevaluation rechtlicher Risiken.

Es ist völlig unklar, was die Klassifikation von Embryonen als Kinder mit sich bringen wird: Gilt die Entsorgung nicht lebensfähiger Embryonen künftig als Körperverletzung mit Todesfolge oder gar Mord? Kann eine Frau, deren Gebärmutter einen Embryo abstößt, wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden? Wie stark steigen die Kosten für IVF, wenn Embryonen nicht mehr auf Vorrat angelegt werden dürfen? Und wie sieht das eigentlich mit der Steuer aus: Geborene Kinder mindern die Steuerlast, gilt das in Alabama künftig auch für Embryonen? Ein Schelm, wer hier ein Steuerschlupfloch wittert: Wer genug verdient, kann einfach ein paar Tausend Embryonen auf Eis legen lassen. Die Einsparungen in der Einkommenssteuer machen die Kosten der Kryokonservierung wett, wenn das Salär nur hoch genug ist.

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1Jeremiah 1:5, zitiert nach New King James Version 1982, Übersetzung durch den Autor. Die entsprechende Stelle in der Lutherbibel 2017 lautet: "Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker." ↩︎