Kommentar

"Wokeness" – Ein Freibrief für Critical Studies?

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In der GWUP wird heftig darüber gestritten, ob die Fächer der Critical Studies wie Gender oder Queer Studies, Critical Race Theory oder Postcolonial Studies auf Wissenschaftlichkeit untersucht werden sollten – und wie rechts Kritik an "Wokeness" ist. Die Äußerungen des neuen Vorsitzenden glätten die Wogen nicht, sondern gießen eher Öl ins Feuer.

Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften – kurz GWUP – sollte damit beginnen, sich selbst zu untersuchen. Denn es passieren da wunderliche Dinge. Dinge, die aus mindestens zwei Gründen auch von öffentlichem Interesse sind. Erstens leistet die GWUP wichtige aufklärerische Arbeit. Wird man sich darauf verlassen können, dass sie es weiterhin tut? Zweitens spiegelt sich in ihr eine Entwicklung wieder, die auch in der Gesellschaft zu beobachten ist und kritischen Denkern Sorgen bereiten sollte.

Zur Erinnerung: Im Mai war die Diskussion über den Umgang mit den sogenannten Critical Studies (etwa Gender Studies, Critical Race Theory, Postcolonial Studies, Queer Studies) eskaliert: Die Kritik einiger GWUP-Mitglieder an solchen Fächern verärgerte andere teils prominente Mitglieder der Organisation. Der Höhepunkt des Streits war die überraschende Wahl des Physikers Holm Gero Hümmler zum Vorsitzenden. Die Wahl war demokratisch, allerdings kam die Kandidatur völlig überraschend. Manche GWUP-Mitglieder, die nichts davon wussten, hatten die Mitgliederversammlung vor der Wahl bereits verlassen. Dumm gelaufen. Oder gut geplant?

Nach langem Schweigen hat sich der neue Vorsitzende nun öffentlich geäußert – mit einem längeren Thread auf X.

Der hat es in sich. Anlass ist ein Vortrag von Andreas Edmüller, Privatdozent für Philosophie an der LMU München, über "Das WOKE-Phänomen", gehalten bei der "Langen Nacht der Wissenschaften" in Nürnberg.

Organisiert war die Veranstaltung von Kortizes – Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs, und der GWUP-Regionalgruppe Mittelfranken. Schon der Titel war für manche offenbar eine Provokation. "Woke" bezeichnete ursprünglich eine besondere Sensibilität gegenüber der Diskriminierung von Schwarzen, heute soll "Wokeness" allen diskriminierten Gruppen gegenüber gelten. Wie deutlich "Wokeness" inzwischen die Gesellschaften im Westen beeinflusst, ist zudem ein "Phänomen". Und das bekommen die Veranstalter und Edmüller nun zu spüren.

Bedeutet "Wokeness" eigentlich nur, wach zu sein gegenüber gesellschaftlichen Missständen?

"Natürlich", so schreibt der GWUP-Vorsitzende Hümmler auf X, "müssen skeptische Organisationen wie die @gwup diskutieren, was ihre Themengebiete sind. Unsere Regionalgruppen haben dabei große Handlungsfreiheit Da geht es auch mal um falsche Vorstellungen zu Burgen oder zur Radioaktivität – oder um Wissenschaftsfreiheit."

Oder um Wissenschaftsfreiheit – das wäre ein Thema, das die GWUP elektrisieren müsste. Hümmler jedoch geht es um etwas anderes:

"Wir sollten aber ideologische Kampfbegriffe wie 'Woke-Phänomen', 'WOKE' in Großbuchstaben oder 'Wokismus' vermeiden, die unsere Außendarstellung in die Nähe neurechter Narrative bringen …" Denn: "Wokeness ist zu einem Kampfbegriff von Rechtskonservativen geworden. Sie benutzen ihn, um politische Anliegen zu diffamieren, die ihnen nicht genehm sind. Dabei meint 'Wokeness' eigentlich nur, wach zu sein gegenüber gesellschaftlichen Missständen."

Hier liegt der Kern des Problems. "Wokeness" bedeutet viel mehr als nur den Einsatz für die Rechte von Minderheiten. Sie ist eng mit den Critical Studies und der Identitätspolitik assoziiert. Sie steht deshalb nicht einfach für eine besonders große Sensibilität Diskriminierung gegenüber, sondern für ein ganz bestimmtes Weltbild.

Wer eine wohl unverdächtige Stimme dazu hören will, möge zum Beispiel bei Sascha Chaimowicz, schwarz, Jude, nachlesen. Er schreibt in der Zeit, bei deren Magazin er Chefredakteur ist: "Nach dem Weltbild der Wokeness, das ich in den vergangenen Jahren kennengelernt habe, hat alle soziale Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen immer mit Rassismus zu tun, der tief in die Psyche der Weißen eingeschrieben ist. Alle Politik, alle Gesetze, ja sogar Gehaltsverhandlungen und Liebesbeziehungen werden getrieben von einem unsichtbaren Strom, der sich aus jahrhundertelangem Rassismus speist. Als Weißer hat man die Aufgabe, diesen Makel in sich anzuerkennen und so gut es geht zu bekämpfen, ein Leben lang. Wer bin ich, zu beurteilen, ob das stimmt – aber was mir an dieser Anschauung missfällt, ist das, was sie für mich als schwarzen Menschen im wirklichen Leben, im Hier und Jetzt, bedeuten würde: Wenn die Weißen gar nicht anders können, als Täter zu sein, muss ich das Opfer sein."

Für solche sehr weitgehenden Behauptungen, wie sie Chaimowicz zutreffend darstellt, braucht man sehr gute Belege – auch wenn die Ziele ehrenwert sind. Diese Belege kritisch zu prüfen ist eine wichtige Aufgabe, denn es geht um Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, und nicht nur um Fragen wie die, ob es in Burgen spukt oder was Radioaktivität eigentlich ist. Um beim Beispiel Rassismus zu bleiben: Es herrscht in den Critical Studies ein eklatanter Mangel an Bereitschaft, über den Ursprung von Fremdenangst, Fremdenhass und Gruppenidentität nachzudenken, Dinge, zu denen Menschen von Natur aus leider neigen. Wie sollen Probleme gelöst werden, wenn wichtige Ursachen ignoriert werden?

In den Critical Studies sortiert man stattdessen lieber grob nach Hautfarben und prangert das historische Eroberungsverhalten von Europäern bzw. Weißen an, als hätten sie das Monopol darauf gehabt. Europäer waren tatsächlich sehr häufig sehr effektive Bestien. Wie Menschen überall auf der Welt. Das zu untersuchen, ist wichtig, interessiert die Critical Studies aber nicht besonders. Wäre das nicht ein Ansatz für eine Prüfung durch eine Gesellschaft, die Parawissenschaften untersucht?

Hümmler fährt auf X fort: "Auch Parolen wie 'Es gibt nur zwei Geschlechter' sollten wir lassen. Das ist selbst in der Biologie nur für bestimmte Fragestellungen richtig, und dort ist es trivial. Wer meint, das in der Öffentlichkeit betonen zu müssen, verfolgt offensichtlich ein ideologisches Ziel."

In die Debatte um die Zahl der Geschlechter sind Skeptiker nicht mit eigenen Parolen eingetreten. Sie haben vielmehr darauf reagiert, dass Trans-Aktivisten begonnen haben, zu behaupten, es gebe auch in der Biologie mehr als zwei Geschlechter, oder Geschlecht würde biologisch ein Spektrum darstellen. Das Ziel war ein politisches: Werden die Geschlechtskategorien aufgeweicht und wird unklar, was eine Frau und ein Mann überhaupt sein sollen, lässt sich sogar behaupten, der Penis wäre nicht per se ein männliches Organ. Umso plausibler und berechtigter erscheint dann die Aussage, dass auch ein biologischer Mann eine Frau sein kann.

Wer verfolgt hier nun ein ideologisches Ziel? Und wer versucht, unwissenschaftlichen Behauptungen mit Hinweisen auf die wissenschaftlichen Fakten entgegenzutreten? Es wäre interessant, zu erfahren, für welche biologischen Fragestellungen es Hümmler zufolge falsch wäre, von zwei Geschlechtern zu sprechen. Biologisch sagt das Geschlecht aus, welche Rolle ein Lebewesen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung spielt – die weibliche mit großen Gameten oder die männliche mit kleinen. Es ist alles andere als trivial, wenn der Vorsitzende der GWUP hier andeutet, es gäbe noch etwas anderes. Vielleicht aber meint Hümmler die geschlechtliche Identität? Dazu hier nur der Hinweis: Es schreit ja förmlich danach, die Studienlage der Critical Studies dazu auf Wissenschaftlichkeit zu durchleuchten. Selbst die Definition von geschlechtlicher Identität scheint nicht eindeutig geklärt zu sein.

Wie wissenschaftlich sind eigentlich Schöpfungsmythen?

Auf X kritisiert Hümmler explizit Edmüllers Vortrag, der auf eine Entwicklung in Neuseeland verweist, um zu zeigen, wohin "Wokeness" führen kann. Dort wird das "Wissen der Maori" ("m'tauranga M'ori") an Schulen den naturwissenschaftlichen Fächern gleichwertig gelehrt. Der Schöpfungsmythos der indigenen Bevölkerung etwa kann demnach den gleichen Anspruch darauf stellen, "Wissen" über die Welt wiederzugeben, wie die Erkenntnisse der Biologie, Geologie, Kosmologie usw. zusammen. Sieben renommierte Wissenschaftler der University of Auckland sprachen sich gegen diese Maßnahme aus, da die Kultur der Maori zwar an den Schulen Thema sein sollte, aber nicht als "Wissenschaft". Wissenschaft sei etwas für die Menschheit Universelles.

In ihrer Heimat löste der Brief einen Aufschrei der Empörung aus. Wäre die GWUP eine Organisation in Neuseeland, hätte sie die sieben Wissenschaftler unterstützt oder mitgeschrien? Hümmlers Reaktion auf den Edmüller-Vortrag sagt darüber eine Menge aus:

"Es ist ebenfalls nicht zielführend, schulpolitische Diskussionen aus Neuseeland oder die Tatsache, dass Kulturwissenschaftler den Begriff 'Wissen' anders verwenden als Naturwissenschaftler wie ich, zu einem 'Angriff auf die Wissenschaft' hochzustilisieren. Wer als Ethnologe die verschwindenden Traditionen einer indigenen Kultur erfasst, schafft natürlich Wissen – und das mag ihm wichtiger erscheinen als Wissen aus der Physik, das man 50 Jahre später noch unverändert gewinnen könnte …"

Während sich Naturwissenschaftler also um möglichst objektive Erkenntnisse über die Welt bemühen, beschäftigen sich Kulturwissenschaftler mit dem, was Kulturen als "Wissen" betrachten und erweitern damit unser Wissen über Kulturen – das leuchtet ein, auch wenn Hümmler es ziemlich durcheinanderbringt. Denn was hat das mit der Kritik daran zu tun, dass beide Wege des Erkenntnisgewinns über die Welt – die Entwicklung von Mythen und der naturwissenschaftliche Weg – gleichberechtigt gelehrt werden sollen? Hier sind wir wieder bei der "Wokeness": Die Critical Studies gehen von der Prämisse aus, dass Gruppen, etwa Frauen, Minderheiten wie Schwarze, Homosexuelle, Muslime oder durch Kolonialismus marginalisierte Kulturen, über ein "Gruppenwissen" verfügen, dessen Wahrheitsgehalt nicht infrage gestellt werden darf. Das wäre (rassistische) Unterdrückung. Ein immer zutreffenderes, verlässlicheres, universelles Bild von der Welt lässt sich so allerdings nicht gewinnen.

Amardeo Sarma, Hümmlers Vorgänger im GWUP-Vorstand, wies erst kürzlich im Magazin Skeptiker darauf hin, dass Traditionen, Religionen oder indigene, kulturell verankerte Erinnerungen zwar Bruchstücke der Wahrheit enthalten können, die von der Wissenschaft überprüft und übernommen würden – wenn sie stimmen. "Sie müssen sich aber, wie andere mögliche Inputs – der rationalen Kritik und der Wissenschaft unterwerfen". Diesen Grundsatz müssten die Skeptiker klar im Blick behalten. Sarmas Worte lesen sich wie eine prophetisch vorweggenommene Reaktion auf Hümmlers Tweet. Dieser meint zudem, die Vermittlung des "Wissens der Maori" wäre zu vergleichen mit "Goethes Faust oder Shakespeares Hamlet, die ganz selbstverständlich in der Schule gelesen werden, obwohl sie magische Vorstellungen enthalten." In unseren Schulen wird jedoch nicht vermittelt, Mephistopheles oder Hexen wie bei Goethe und Shakespeare hätten wirklich etwas mit Wissen und Realität zu tun gehabt. Die Kultur betreffenden Fächer an unseren Schulen haben nicht den Anspruch, eine Alternative zu den naturwissenschaftlichen Fächern zu bieten.

Auf welche Abwege "Wokeness" noch führen kann, zeigt übrigens auch der Umgang vieler Linker mit Islamkritikern und aktuell mit Israel. Der Anspruch, sich für die Rechte und die Freiheit einer unterdrückten Gruppe einzusetzen, scheint manche geradezu blind zu machen gegenüber der Realität in diesen Gruppen. Kritiker wie Mina Ahadi, Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek, Bassam Tibi, Ayaan Hirsi Ali oder Ahmad Mansour, die seit Jahrzehnten vor dem Politischen Islam und islamistischen Fundamentalisten warnen, wurden immer wieder als islamophob gebrandmarkt, es wurde als rassistisch diffamiert, wer darauf hinwies, dass nicht nur bei Deutschen, sondern auch bei bestimmten Gruppen mit Migrationshintergrund Antisemitismus und Homophobie ein großes Problem darstellen.

Die Solidarität mit den Palästinensern hat bei vielen sogar zu einer Haltung Israel gegenüber geführt, die sie offenbar nicht mehr erkennen lässt, mit wem sie es zu tun haben, wenn es um die Hamas geht. Da mag Kritik an Israels Siedlungspolitik noch so berechtigt sein – hier tun sich Abgründe auf. Natürlich sind viele, die sich als "woke" betrachten lassen, über den Terror entsetzt. Aber viele derjenigen, die sich jetzt demonstrativ an die Seite der Palästinenser stellen, sind ziemlich "woke". Vielleicht auch eine Folge von zu weit getriebenen Postcolonial Studies, wie etwa René Pfister vom Spiegel schreibt? Eine Analyse wäre interessant, aber in der GWUP den offiziellen Kanälen des Vereins zufolge zu unterlassen.

Wechseln linke "Wokeness"-Kritiker – zack – nach rechts?

In einem Punkt hat Hümmler natürlich recht: Tatsächlich hetzen konservative, rechte und rechtsextremistische Populisten gegen "Wokeness", um den berechtigten Kampf gegen Diskriminierung pauschal zu schwächen. Aber das ändert nichts daran, wofür "Wokeness" tatsächlich steht. Und niemand wechselt von der linken oder linksliberalen Seite mal zack nach rechts, weil er oder sie "Wokeness" kritisiert. Noch dazu aus anderen Gründen als die Rechten. Die Moralphilosophin Susan Neiman etwa, bislang keiner rechten Gesinnung verdächtig, hat den Lackmustest à la Hümmler dann wohl auch nicht bestanden: "Woke ≠ links" (sondern reaktionär) – so der Titel (und die Schlussfolgerung) ihres jüngsten Buches. Sie ist nur eine von vielen explizit Linken, die das so sehen.

Der GWUP-Vorsitzende wirft "woke"-kritischen Mitgliedern nun vor, eine Ideologie zu vertreten, die nicht die der Organisation sei. Während er sich in seinem Tweet als "Freund der Meinungsfreiheit" bezeichnet, ist er intern deutlicher geworden: Hümmler hält den Kritikern nicht nur "neurechte Tendenzen" vor, wie aus dem Protokoll eines Treffens zwischen ihm und Mitgliedern des GWUP-Wissenschaftsrates im August 2023 hervorgeht. Könnten bestimmte Aspekte in einer Diskussion als "neurechts" angesehen werden, möchte er sie unterbinden. Klare Kriterien, was als "neurechts" gelten soll, hat er bislang nicht vorgestellt. Ein Schelm, wer da an Willkür denkt.

Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die mehrheitliche Entscheidung des neuen Vorstands zu verstehen, dass der Betreiber des Accounts mit dem Usernamen @gwup bei X seine Arbeit einstellen soll. Weil, so berichtet ein Vorstandsmitglied, er ausgerechnet mit dem Edmüller-Vortrag für die "Lange Nacht der Wissenschaften" geworben hatte. Man stünde am Anfang einer "gründlichen, ideologischen Reinigung der GWUP", die sicherstellen soll, dass es keine Abweichungen von "woke"-Standpunkten mehr geben werde, befürchtet er. So steht es in einem Brandbrief des Wissenschaftsrates. Dieser versteht sich als "Wächter über die wissenschaftliche Integrität des Vereins" – und derzeit positioniert er sich nahezu geschlossen gegen Hümmler. Auch im Vorstand gibt es Opposition. "Der GWUP-Vorsitzende zeigt klar seine Absicht, den freien Diskurs innerhalb unserer Organisation zu beschränken, um eine wissenschaftsfeindliche Ideologie – Wokeness – zu schützen", schreibt Vorstandsmitglied André Sebastiani auf X. "Das steht im Widerspruch zum Grundgedanken der GWUP."

Es gibt Stimmen, die vermuten, die ganze Sache könnte damit zusammenhängen, dass in Teilen der GWUP die Angst umgeht, "woke" Sympathisanten könnten sich abwenden. Vielleicht sorgen sich auch prominente GWUP-Mitglieder, zahlende Gäste ihrer Vorträge könnten ausbleiben? Die richtige Reaktion darauf wäre, noch besser über "Wokeness" aufzuklären.


Hinweis der Redaktion: Im vorletzten Absatz wurde am 08.11.2023 um 13:45 Uhr ein Satz entfernt. Die Passage wurde um 19:00 Uhr erneut folgendermaßen überarbeitet: So steht es in einem Brandbrief des Wissenschaftsrates. Dieser versteht sich als "Wächter über die wissenschaftliche Integrität des Vereins"

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