Ein Gespräch mit Heiner Bielefeldt über das Menschenrecht Religions- und Weltanschauungsfreiheit

"Respekt vor den identitätsstiftenden Überzeugungen der Menschen"

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Heiner Bielefeldt (links: Mina Ahadi) auf dem Humanistentag 2014 in Regensburg
Heiner Bielefeldt (links: Mina Ahadi) auf dem Humanistentag 2014 in Regensburg

Eingeschränkte Formen von Religionsfreiheit fanden sich in Europa bereits bevor bürgerliche Menschenrechtsvorstellungen in der Aufklärung an Bedeutung gewannen. Sie sind auf die Folgen der Reformation zurückzuführen und häufig nur Ausdruck der Erkenntnis, dass die Glaubensspaltung (zumindest vorerst) nicht mit Gewalt rückgängig gemacht werden kann. Vereinzelt wurden auch kleinere Bekenntnisse toleriert, bis 1789 in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte festgeschrieben wurde, dass "niemand ... wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden" solle, "solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört". Mit Heiner Bielefeldt sprach MIZ über die heutige Situation des Menschenrechts Religions- und Weltanschauungsfreiheit.

MIZ: Wie hat sich die Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit seit der Erklärung der Menschenrechte 1948 denn entwickelt?

Heiner Bielefeldt: Über die Entwicklung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf dem gesamten Globus über einen Zeitraum von 75 Jahren hinweg in aller Kürze seriöse Aussagen zu treffen, ist fast unmöglich. Was man gleichwohl sagen kann, ist, dass sich die Lage in den bevölkerungsreichsten Ländern Indien und China in den letzten Jahren leider erheblich verschlechtert hat. Wichtige Entwicklungen haben indes auf der normativen Ebene stattgefunden: Heute kommt viel klarer als früher zur Sprache, dass es sich bei der Religions- und Weltanschauungsfreiheit um ein Recht handelt, das für nicht-religiöse Menschen genauso gilt wie für die Angehörigen der Religionen. Grundsätzlich geht es um den Respekt vor den identitätsstiftenden Überzeugungen der Menschen einschließlich der von solchen Überzeugungen her getragenen Lebenspraxis.

Lässt sich für die anhaltenden Verletzungen eine Hauptursache ausmachen oder kommen hier jeweils regionale Besonderheiten zum Tragen?

Die Ursachen sind meistens komplex und differieren von Land zu Land und von Region und Region ganz erheblich. Drei typische Muster treten dabei aber vielfach zutage (die sich natürlich auch überlappen können): die militante Behauptung einer religiösen oder ideologischen Wahrheit, die es gegen "Ungläubige", "Abtrünnige" oder "Ketzer:innen" zu verteidigen gelte; die identitätspolitische Beschwörung eines nationalen religiös-kulturellen Erbes, das vor "fremden" Religionen geschützt werden müsse; die Kontrollobsessionen autokratischer Staaten, denen vor allem die soziale Praxis von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften suspekt ist, weil sie darin Brutstätten von "Illoyalität" und "Subversion" wittern.

Sie waren lange als Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats tätig. Wie schätzen Sie heute die Wirkung Ihrer damaligen Tätigkeit ein?

Ich war immer realistisch und nüchtern genug, um zu wissen, dass die UN-Sonderberichterstattung nur im Konzert mit zivilgesellschaftlichen Organisationen – vor allem solchen, die vor Ort tätig sind – Wirkung entfalten kann. Die Frage, was ich allein bewirken konnte, ist dagegen irrelevant.

Und wie ist das Gremium an sich zu bewerten?

Wie andere politische UN-Gremien ist der UN-Menschenrechtsrat vor allem ein Spiegel der Welt, wie sie ist. Die Kunst besteht darin, die Einhaltung von Menschenrechtskonventionen zum Testfall für die Vertrauenswürdigkeit der Staaten im internationalen Verkehr zu erheben. Fast alle Staaten der Welt sind ja daran interessiert, als verlässlich und vertrauenswürdig zu gelten, weil sie sich sonst schnell im Abseits finden.

Wie stellt sich die Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit für Deutschland dar?

Im weltweiten Vergleich steht Deutschland ziemlich gut da. Dennoch gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Mit größter Sorge sehe ich das Grassieren von Verschwörungstheorien, die typischerweise antisemitisch unterlegt sind – das ist ja ebenfalls ein Thema der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Muslimfeindlichkeit ist ein weiteres Riesenproblem. Ansonsten geht es darum, die Kooperationsstrukturen innerhalb dessen, was man lange Zeit "Staatskirchenrecht" nannte, im Blick auf den mittlerweile entstandenen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus und öffnen und zu adaptieren.

MIZ 3/23


Das Interview erschien zuerst in der MIZ 3/23.

Machen die Pluralisierung der religiösen Landschaft und der hohe Anteil an Konfessionslosen die Verwirklichung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit einfacher oder bringen sie eher neue Konflikte?

Einfachheit ist im Kontext der Menschenrechte kein Maßstab. Natürlich bringt die gesellschaftliche Pluralisierung neue Konflikte mit sich, die aber auch Chancen für eine aktualisierende Weiterentwicklung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit enthalten. Ich hege in dieser Hinsicht keine nostalgischen Gefühle.

Wie würden Sie im Hinblick auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit die Debatte um das Tragen religiöser Symbole oder Kleidungsstücke im Staatsdienst einschätzen?

Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen dem Staat und den Menschen, die im Staatsdienst tätig sind. Während der Staat als solcher weltanschaulich-religiös "neutral" sein soll (was leichter gesagt als getan ist), gilt dies für die Menschen nicht ohne Weiteres. Es kommt dann auf die Institutionen und die Art der Tätigkeit im Staatsdienst an. Von einer Richterin oder einem Richter kann man in anderer Weise erwarten, dass sie die gebotene staatliche Neutralität auch im persönlichen Erscheinungsbild verkörpern, als etwa von einer Kindergärtnerin oder einem Lehrer. Pädagogisches Handeln zeichnet sich durch rücksichtsvollen Umgang mit Pluralismus aus, es muss aber nicht "neutral" sein.

Ich würde davon ausgehen, dass die staatliche Neutralität die Basis ist, auf der sich Religions- und Weltanschauungsfreiheit überhaupt nur entwickeln kann. Kann das Beharren auf beispielsweise der Verschleierung nicht als Bekenntnis verstanden werden, im Zweifelsfall religiöse Vorschriften als wichtiger zu erachten als die staatliche Neutralität?

Im Respekt der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sollte der Staat nur dann auf Verbotsregelungen zurückgreifen, wenn andere plausible Optionen nicht bestehen. Im Falle tatsächlicher Konflikte mit bestimmten Dienstpflichten stehen dem Staat genügend Möglichkeiten zur Verfügung. Konflikte schon weit im Vorfeld zu imaginieren und mit präventiven Vorschriften und Verboten ausräumen zu wollen, ist mit meinem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbar.

Wir haben den Eindruck, dass in letzter Zeit zunehmend die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Religions- und Weltanschauungsfreiheit gegeneinander ausgespielt werden. Wie ist da Ihre Beobachtung?

Die Vorstellung, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit einerseits und die Meinungsfreiheit andererseits von Hause aus auf dem Kriegsfuß miteinander stehen, ist weit verbreitet. Ich kenne dies auch aus dem UN-Kontext. Man sollte aber nicht vergessen, dass es sich bei beiden Rechten um genuine Freiheitsrechte handelt, die einander positiv ergänzen und wechselseitig verstärken. Missverständnisse entstehen dann, wenn man die Religionsfreiheit zu einer Art Schutzrecht für die Reputation der Religionen (meistens: bestimmter Religionen) ummünzt. Das führt systematisch in die Irre.

Verfolgen Sie die "Supergrundrecht"-Debatte?

Ich fürchte, es gibt nicht nur eine, sondern mehrere Supergrundrecht-Debatten. Alle mir bekannten Varianten finde ich hoch problematisch, weil sie Hierarchisierungen im Gesamtfeld der Grund- und Menschenrechte durchführen, die mit dem Leitprinzip der "Unteilbarkeit" der Rechte unvereinbar sind.

Wir meinen, dass sich in den vergangenen etwa zwei Jahrzehnten ein Trend herausgebildet hat: In Staaten, die formal zumindest teilweise Religionsfreiheit gewähren, geraten religiöse Minderheiten unter Druck. Dabei ist es aber weniger staatliche Verfolgung als die militante Intoleranz einzelner Gruppierungen, die Andersgläubigen gefährlich wird. Wie schätzen Sie das ein?

Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird – wie übrigens andere Menschenrechte auch – seit jeher nicht nur durch staatliche Grenzüberschreitungen, sondern auch durch Militanz gesellschaftlicher Gruppen, also beispielsweise durch aggressiv-fundamentalistische Bewegungen bedroht. Dem Staat kommt neben der Pflicht zur Achtung der Menschenrechte daher auch die Pflicht zu, die Menschenrechte gegen Bedrohungen von dritter Seite zu schützen. Ich wäre aber zurückhaltend mit der Einschätzung, dass die staatliche Verfolgung insgesamt weniger geworden wäre. Oft haben wir es ja auch mit einer Verbindung staatlicher und gesellschaftlicher Repression zu tun – man denke etwa an den Hindunationalismus in Indien.

Wir stellen die Rückkehr religiöser Unduldsamkeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen auch in Deutschland fest. Uns irritiert dabei, dass von staatlichen Stellen diese Entwicklung in Abrede gestellt wird und diese sich sogar explizit weigern, das Phänomen untersuchen zu lassen und die Fälle zu dokumentieren. Wäre es nicht eher Aufgabe des Staates, den Wunsch nach individueller Freiheit und Abweichung von der religiösen Norm zu schützen als wegzuschauen?

Religions- und Weltanschauungsfreiheit impliziert selbstverständlich die Freiheit, sich von etwaigen religiös-normativen Erwartungen fernzuhalten beziehungsweise aktiv zu distanzieren. Vor allem in engen Milieustrukturen ist dies immer schwierig gewesen. Insofern kann kein Zweifel bestehen, dass es entsprechenden Problemdruck auch in Deutschland gibt. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche, die zu schützen natürlich Aufgabe des Staates und seiner Institutionen – also etwa der Schulen und einschlägiger Beratungsstellen – ist.

Brauchen wir in Deutschland eine Ombudsstelle, an die sich Opfer religiös motivierter Übergriffe wenden können?

Es braucht auf jeden Fall niedrigschwelle Beratungsangebote mit professionell geschulten Menschen, die entsprechende Sensibilität aufbringen. Ob dafür eine separate Ombudsstelle nötig ist, weiß ich nicht. Angesichts des manchmal etwas labyrinthischen "Beauftragtenwesens" in Deutschland erscheint mir diese Forderung vorerst nicht sonderlich plausibel.

Danke für das Gespräch.

Heiner Bielefeldt, geboren 1958, ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2003 bis 2009 war Bielefeldt Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, von Juni 2010 bis Oktober 2016 Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats. Zahlreiche Publikationen zu Menschenrechtsfragen, u.a. "Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary" (2016) oder Heiner Bielefeldt & Michael Wiener: "Religionsfreiheit auf dem Prüfstand. Konturen eines umkämpften Menschenrechts" (Transcript-Verlag, 2020).

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