Kultur, Identität und Menschenrechte

(hpd) Von großer Aktualität sind die Beiträge des Sammelbandes, den der tunesische Philosoph Sarhan Dhouib herausgegeben hat. Sie gehen die Fragen unserer Zeit, die des Zusammenlebens, des Dialogs der Kulturen, der Identität, der Migration und der Menschenrechte aus einer transkulturellen, mehrstimmigen Perspektive an.

Der Inhalt dokumentiert eine Tagung in Tunis, an der zahlreiche Philosophen aus Deutschland, dem Maghreb und Ägypten teilgenommen hatten. Die Beiträge fokussieren zum Großteil auf die Frage der Universalität der Menschenrechte im Zeitalter des Identitätsaufbruches oder eher der Identitokratie.

Im ersten Text schreibt der Philosoph Hans Jörg Sandkühler, dass die Menschenrechte notwendig für das Zusammenleben sind. Für ihn stellen sie den Schutz der Freiheiten und der Rechte aller Gesellschaftsmitglieder dar und gelten "ungeachtet unserer kulturellen Herkunft". Der Rechtsrelativismus gründet Sandkühler zufolge in dem "Vorrang der privaten Moral vor dem öffentlichen Recht". Deshalb plädiert er für eine neutrale Rechtskonzeption, die das "Zusammenleben in Gerechtigkeit" fordert.

Diese Neutralität spiegelt sich in den internationalen Menschenrechten, die gegenüber den partikularen Weltanschauungen, religiöser oder säkularer Natur, neutral sind. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, die Kultur, jede Kultur als Gabe der Begegnung, des Dialogs und der Hybridität zu verstehen. Man kann nicht im Namen einer Kultur sprechen, sondern nur innerhalb dieser Kultur, als Stimme von vielen. Die Aufgabe der Menschenrechte besteht auch darin, diese Mehrstimmigkeit zu bewahren. Der kulturalistische Relativismus ist in diesem Verständnis, auch, wenn Sandkühler das nicht direkt sagt, die wahre Gefahr für die gesellschaftliche und kulturelle Mehrstimmigkeit. Und zwar, weil er im Namen einer Identität - oder eher einem geschlossenen Verständnis von Identität - die internationalen Menschenrechte als kontextabhängig beziehungsweise als westlich betrachtet und damit als eine Form der Hegemonie oder des kulturellen Imperialismus brandmarkt.

Nicht die Vernunft ist die Folterin, sondern jene Vernunft, die stets die Anderen in die Totalität des Selben einzuholen versucht - so könnte man mit Foucault gegen Universalismus sprechen. Oder in der Sprache Bourdieus: Jene Vernunft, die die Unvernunft in den Peripherien fordert. Im Orient wie im Okzident, im Norden wie im Süden, streben die Menschen ein Leben in Würde und Freiheit an. Jedes Kulturverständnis, das ihnen diese langersehnte und langerkämpfte Freiheit abstreitet oder als westlich verurteilt, stellt zweifelsohne die wahre Hegemonie und den wahren Imperialismus dar.

Der Ansatz des Philosophen Georg Mohr geht auch in diese Richtung. Für ihn konstituieren die Menschenrechte die "Rechtsubjektivität wie die Rechtsintersubjektivität von Menschen". Sie begegnen den Menschen als Menschen und nicht als Anhänger eines bestimmten Moralkodex oder Kultur. Blauäugig bleibt aber seine Vorstellung vom Partikularismus als "ein Universalismus der universalen wechselseitigen Wertschätzung der kulturellen Selbsterschaffung des Menschen", da der Partikularismus sich immer gegen die anderen Partikularismen profiliert.

Er ist das Kind einer selbstgenügsamen Logik, die in jeder Form der Begegnung eine Gefahr sieht. Das kennen wir zumindest in der arabischen Kultur, und zwar von den ethnischen wie von den religiösen Partikularismen, die unfähig zur Koexistenz sind. Natürlich ist die Begegnung mit "den Anderen" immer eine kritische und keine hegemoniale. Die westliche Politik, welche Fanon, Sartre oder Memmi unter anderem kritisierten, ist auch dieselbe Politik, welche die gesamte Region aus einem tausendjährigen Schlaf erweckt hat. Damit will ich den Kolonialismus nicht verteidigen, sondern nur jene Position kritisieren, die im Namen der Nationalen Befreiung weder Freiheit noch Würde gebracht hat. Zu Recht beschreibt Mohr dies als eine unglückliche Freiheit.

Deshalb hat die Tunesierin Hélé Béji Recht, wenn sie gegen den Partikularismus spricht und für die Bürgerschaftlichkeit statt der Kulturalität, die meistens die Form einer geschlossenen Identität annimmt. Nur in der Bürgerlichkeit ist die wechselseitige Anerkennung möglich. Und auch wenn es berechtigt ist, den Kolonialismus zu kritisieren, sollte man nicht wie der tunesische Philosoph Fathi Triki anfangen, über "eine Struktur westlicher Rationalität" zu sprechen, welche "den Kolonialismus als eine mögliche Form der Beziehung zum Anderen in sich schließt". Gibt es überhaupt eine Struktur oder mehrere? Eine Rationalität oder viele? Und ist der Westen nicht schon ein Bestandteil der maghrebinischen Identität?

Eine der wichtigsten Beiträge in diesem Band ist der Aufsatz des tunesischen Philosophen Fethi Meskini: "Der letzte Kommunitarier oder: nach Identität". Meskini unternimmt erstens eine Unterscheidung zwischen dem kommunitären Typus und dem, was er homo identicus nennt. Der Erste lebt gefangen in vorgeschriebenen Werten und Lebensweisen, während der Zweite sich von jeder Form des Kollektiven befreit hat. Meskini stellt die Frage, die wir aus dem westlichen Kontext kennen, nämlich: Wie kann man vom kommunitären Typus zum homo identicus gelangen? Oder in der Sprache Lipovestkis, um nur einen weiteren Denker zu erwähnen: Wie kann man in die Ära der Leere gelangen, jene Ära des Individuums als Sorge um das selbst? In einer Existenz nach der Identität (oder in der Sprache Levinas "Ohne Identität") zu existieren, heißt aber nicht, die Welt nur auf unterschiedliche Weise zu bewohnen. Das verteidigt Meskini in einer Sprache, die an Heidegger erinnert. Das Wohnen ist immer eine Heimatsbesessenheit. Und immer im  Heideggerschen Jargon fügt Meskini hinzu: "Der heute erforderliche Menschentypus kann nur posthumanistisch, postkommunitaristisch und postmonotheistisch sein".

Aber wozu brauchen wir heute einen einzigen Menschentypus? Und ist der Humanismus wirklich passé oder nur jener Humanismus, der sich auf einer negativen Freiheit beruhte, nämlich auf die der selbstgenügsamen Vernunft? Die Kritik am Kommunitarismus ist eine Bedingung für jede Kultur beziehungsweise Gesellschaft, die sich für die Differenz und die wechselseitige Anerkennung entschieden hat. Aber Kritik wie Meskini sie ausübt, hat sich noch nicht von der Sprache der Kommunitaristen befreit. Nicht der letzte Mensch, sondern ein pluraler und bescheidener ist, wofür wir arbeiten sollen - in der Sprache Blanchots: eine Subjektivität ohne Subjekt.

Rachid Boutayeb

Sarhan Dhouib (Herausgeber), Wege in der Philosophie. Geschichte - Wissen - Recht - Transkulturalität, Velbrück; 2011, ISBN 3942393093, 38,95 Euro