Rezension

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band

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Die libanesische Schriftstellerin Haneen Al-Sayegh hat mit "Das unsichtbare Band" einen bewegenden, autofiktionalen Debütroman vorgelegt. Mit poetischem Feingefühl erzählt sie die Geschichte einer Frau, die sich von den Ketten ihrer religiösen Herkunft befreit, um selbstbestimmt leben und lieben zu können.

Haneen Al-Sayeghs Buch sorgte nach dem Erscheinen im Libanon wegen seiner Tabubrüche für Furore und wurde in arabischen Medien als literarische Sensation gefeiert. Es handelt von einer jungen Frau namens Amal, die in einem abgelegenen libanesischen Bergdorf in der patriarchalen Religionsgemeinschaft der Drusen aufwächst. Schon als kleines Mädchen erfährt sie die Enge einer Welt, die von Schicksalsglauben, strengen Moralvorschriften und Gewalt geprägt ist. Frauen stehen unter Vormundschaft der Männer und müssen sich den traditionellen Rollenbildern fügen, die ihnen von geistlichen Autoritäten auferlegt werden. Auch in Amals Familie stehen die religiösen Gebote an oberster Stelle. Ihre Eltern fordern Gehorsamkeit ein und es herrscht ein Klima der Angst. Die regelmäßigen Wutausbrüche des Vaters führen dazu, dass Amal zunehmend verstummt: "Die Angst lehrte mich zu schweigen. Ich tauschte meine Stimme gegen den Frieden ein, und so gab ich sie nach und nach auf, Streit für Streit, ein Schweigen nach dem anderen."

Zerrissen zwischen Loyalität und Freiheitsdrang hegt Amal den Traum eines Studiums an der renommierten American University of Beirut. Doch ihr Vater würde es nie erlauben, dass sie als unverheiratete Frau das Familienhaus verlässt, um ein eigenständiges Leben zu führen. Die gerade erst 15-Jährige stimmt deshalb einer arrangierten Ehe mit dem zehn Jahre älteren Geschäftsmann Salem zu, der ihr verspricht, studieren zu dürfen. Sein Versprechen hält Salem jedoch nicht ein. Die Beziehung ist stattdessen von sexueller Gewalt und obsessiver Kontrolle geprägt. Enttäuscht darüber, dass Amal nicht schwanger wird, zwingt er sie mehrmals zur strapaziösen Prozedur einer künstlichen Befruchtung – ein traumatisierendes Erlebnis, das eine Zäsur in Amals Leben bedeutet: "Irgendetwas hatte die Art und Weise, wie ich mich selber sah, für immer verändert. Irgendetwas gab mir das Gefühl, dass mein Körper zu einem Gefängnis geworden war, in dem ich für immer gefangen bleiben musste." In den darauffolgenden Monaten meidet sie soziale Kontakte und ihr Schmerz verwandelt sich in Hass und Scham. Auch die spätere Geburt ihrer Tochter Rahma ändert nichts an der prekären Situation, in der Amal gefangen ist. Allein im Lesen und Schreiben findet sie vorübergehenden Trost.

Auf der Suche nach der eigenen Stimme

Die von Depressionen und Selbstzweifeln geplagte Amal hält dennoch an ihrer Hoffnung fest und bewirbt sich heimlich an der Universität in Beirut. Die unerwartete Zusage schenkt ihr neuen Mut, für sich selbst einzustehen. So erkämpft sie sich mit der Zeit immer mehr Freiheitsgrade und pendelt zwischen zwei Lebenswelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während sie zuhause ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter nachkommen muss, eröffnen sich in Beirut neue Möglichkeitshorizonte. Der Kontakt zu einem berühmten, religionskritischen Schriftsteller entwickelt sich dort zu einer tiefen Beziehung, die von Sanftheit, Ehrlichkeit und Wärme geprägt ist. Zum ersten Mal erfährt sie, dass Hingabe ohne Selbstaufgabe möglich ist, und dass wahre Liebe bestehen kann, ohne die eigene Stimme zu verlieren. "Liebe ist also das, was das verzerrte Bild gerade rückt, der Weg zur Wahrheit des anderen."

Mehr als nur ein persönliches Schicksal

Mit der Geschichte von Amal blickt Haneen Al-Sayegh auf ihr eigenes Leben zurück. Dafür wählt sie eine Sprache, die zwischen dokumentarischer Klarheit und poetischem Feingefühl balanciert. Doch der Roman ist mehr als die Erzählung eines Einzelschicksals. Er steht stellvertretend für die Unterdrückung und Herabwürdigung von Frauen weltweit. Genau dies ist das titelgebende unsichtbare Band: Ein "Pakt der Solidarität, des Verständnisses und des gemeinsamen Leids – eine Charta, die nicht in einem Buch geschrieben steht oder den Frauen im Namen Gottes aufgezwungen wurde, sondern ein Pakt, der Frauen zusammenbringt und sie zu einer Dimension vereint, in der Religion, Kultur und geografische Herkunft keine Rolle spielen".

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band, dtv 2024, 336 Seiten, 24 Euro (eBook 19,99 Euro). ISBN: 978-3-423-28398-4

Übersetzung aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad

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