Anmerkungen zu einer Veranstaltung und einem Buch

"Serpentinen" von Bov Bjerg

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Bov Bjerg, der Schriftsteller, ist in literarischen Kreisen kein Unbekannter: Mit "Auerhaus", dem Bühnenstück und dem Film darüber, wurde er bekannt. Die Moderatorin des Abends, Insa Wilke, ist auch keine Unbekannte. Als Mitglied der Jury des Klagenfurter Bachmann-Preises, als Literaturredakteurin, Dozentin und Autorin selbst prägte sie viele Formate in der literarischen Welt. An diesem Abend nun als "Stichwortgeberin" für ein einprägsames wie einfühlsames Interview mit Bov Bjerg – wobei die Bezeichnung Stichwortgeberin hier ein völlig falsches Substantiv ist, weil Wilke für die Zuhörer sehr behutsam die in Bjergs Buch angedeuteten Ebenen verknüpft – und nicht eben nur kommentiert.

Die Veranstaltung in der Berliner "Kulturbrauerei" (11. Februar 2020) zeitigte noch etwas anderes, das, was man beim alleinigen Lesen nicht sofort bemerkt: Bjerg selber ist ja ein begnadeter Vorleser seiner eigenen Texte – ein Umstand, der das Lesen der Texte begreifbarer macht, was nicht unbedingt für alle Schauspieler gilt, die Texte anderer mit eigener Verve reproduzieren, oder auch selbst Autoren, die eigene Texte nicht unbedingt emphatisch genug zur Geltung bringen können.

Bjerg vermittelt seinen Text – im alleinigen Lesen geht das unter.

Worum geht es? Er sei ausgewandert, im Jahr 1900. Habe Frau und Kinder im Havelland gelassen und ist einfach fort. Seine Holzpantinen habe man in der Elbe gefunden.

Viel später war ich in Hamburg und ging die Passagierlisten durch. In Bremerhaven. Auf Ellis Island. Ich fand den Urgroßvater nicht.
Er war nicht ausgewandert. Er hatte sich einfach das Leben genommen. Wie der Großvater und wie der Vater. Holzpantinen im Fluss: Beweis, dass einer ausgewandert war. Diese Familie hatte es nicht so mit Wirklichkeit oder Logik.

Insa Wilke und Bov Bjerg, Foto: © Th. Hocke
Insa Wilke und Bov Bjerg, Foto: © Th. Hocke

So beginnt das Buch und so begann Bov Bjerg mit seinem Auszug aus dem Buch in Klagenfurt im vorigen Jahr. Das sei eigentlich ein düsterer Einstieg in ein Buch – von Insa Wilke dazu befragt, antwortete Bjerg sofort mit einem beherztem "Nein", es sei das Gegenteil von etwas Düsterem, sogar komisch. Man muss dazu sagen, dass Bjerg nicht nur als Autor oder Vorleser, sondern auch als Kabarettist arbeitet. Im vorgetragenen zweiten Teil des Abends verstand man dann Zusammenhänge.

Zum Inhalt des Buches die kurze Beschreibung im Klappentext:

Ein Vater unterwegs mit seinem Sohn. Ihre Reise führt zurück in das Hügelland, aus dem der Vater stammt, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Da ist das Geburtshaus, dort die elterliche Hochzeitskirche, hier der Friedhof, auf dem der Freund Frieder begraben liegt. Ständiger Reisebegleiter ist das Schicksal der männlichen Vorfahren, die sich allesamt das Leben nahmen. Der Vater muss erkennen, dass sein Wegzug, seine Bildung und sein Aufstieg keine Erlösung gebracht haben. Vielleicht helfen die Rückkehr und das Erinnern. Warum hat er keine Antwort auf die bange Frage des Sohnes. "Um was geht es?" Er weiß nur: Wer zurückfährt, muss alle Kurven noch einmal nehmen. Wenn er der dunklen Tradition ein Ende setzen will.

Man kann es, wie im Neudeutschen so üblich, einen Selbstfindungsprozess des Ich-Erzählers, eines Soziologieprofessors (auch Bjerg hat Soziologie studiert), nennen, doch das reicht nicht, wenn man alle Facetten des Buches Revue passieren lässt: ein Vater, der, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, einen – für ihn selbst nicht mehr nachzuvollziehenden oder auch selbst nicht mehr begreiflichen – Aufstieg "in die Gesellschaft" errungen hat, verheiratet mit einer angesehenen Juristin, nun mit seinem Sohn in einem Auto die Hügellandschaft der Heimat befährt, hoch und runter und wieder hoch, Kurven schneiden muss, beschleunigen, abbremsen – und versuchen will, zu reden. Die Unsicherheit darüber, "was für ein Schicksal Vater und Sohn miteinander verbindet" wird bildhaft, wie es in einer sehr einfühlsamen Rezension (von Gerrit Bartels im Tagespiegel vom 26.3.2020) über "Serpentinen" heißt:

Die BRDnoir ist das hier, eine Bundesrepublik, die fast noch dunkler erscheint als bei Autoren wie Frank Witzel oder Heinz Strunk, als bei Andreas Meier oder Jakob Arjouni, seien es nun die sechziger, siebziger oder achtziger Jahre. Der Mörder in mir ist der Mörder in dir, um es mit den Smashing Pumpkins zu sagen, in den schon etwas heileren neunziger Jahren. Die Mörder und die Monster, sie sind oft einfach die Familienmitglieder. Und Nazis sowieso, das bekommt hier bisweilen schon fast Obsessives ...

Cover

Doch was daraus wird, klingt in seltsamen, kargen, fast abgehackten Worten, Worthülsen, in Dialogen als statischer Versuch, überhaupt miteinander ins Gespräch zu kommen.

Der Ich-Erzähler ist ein Mann, der keine Schutzhaut hat. Man weiß nicht, ob er den Sohn entführen will oder nur – ohne Wissen der Mutter – eine Gelegenheit sucht, seinem Sohn die eigene Herkunft "erklären" will, seinen Aufstieg, seine Gedankenwelt vermitteln will.

Ein richtiger Dialog findet nicht statt, weil sie beide keinen Zugang zueinander haben.

Wir klemmten fest in einer Rinne voller Autos und Lastwagen. Tausende im Leerlauf knatternde Verbrennungsmotoren. Vor uns, quer über den Fahrspuren, ein großes gelbes Schild, ein schwarzer Pfeil nach vorn, STUTTGART-ZENTRUM. Das Schild kam ums Verrecken nicht näher. "Um was geht es?" rief ich. Der Junge rief: "Ums Schalten! Links treten, am Knüppel schalten!" Ich trat aufs Kupplungspedal und rührte mit dem Knüppel durch die Gänge.

Der zweite vorgetragene Teil des Buches lässt die Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers bei einem Empfang zu Ehren seiner Ehefrau, der angesehenen Juristin, in eine Ausfallsituation wellenmäßig wüten, eskalieren. Er wütet im Alkoholrausch gegen "die Gesellschaft", seine Oberflächlichkeit, seine Korrumpierbarkeit – und seine Ahnungslosigkeit der eigentlichen Gesellschaft gegenüber, der unerklärliche Aufstieg von den anderen Eingeladenen – und natürlich auch von sich selber.

Dieser Ausfall wiederum ist nur erklärlich, wenn man die verschiedenen Puzzleteile zueinander fügt. Auch Bjerg selber, so erklärte er es an diesem Abend, habe am Anfang nicht gewusst, in welche Richtung die Geschichte gehen sollte. Erst dann habe er das Buch zu Ende schreiben können. Es sei wie beim Betrachten eines Bildes von Max Beckmann, dessen Strukturen nicht sofort augenfällig wirkten, sondern Möglichkeiten dem Anschauenden böten, Zusammenhänge zu erahnen.

Das Buch, das sich anfangs sehr bedrückend liest, bekommt dann eine Spannung, die bis zum Ende durchhält – das sei dringend den Lesern geraten, die vielleicht früh aufgeben.

Bov Bjerg, Serpentinen, Ullstein 2020, ISBN-13 9783546100038, 22,00 Euro

Korrekturhinweis: Im ersten Absatz stand ursprünglich ein falsches Datum. Ein aufmerksamer Leser hat uns darauf aufmerksam gemacht. 

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