Notizen aus der Inneren Coronei: Überdosis Osterbotschaft

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Heute ist der Donnerstag nach Ostern, der 16. April 2020, und ich habe sie überlebt, die diesjährige mediale Dauerbeschallung mit religiös-kirchlicher Propaganda. Seit Wochen blasen fundamentalistische Irrläufer zur Attacke, sogar aus dem Bibelkreis im Weißen Haus dröhnten die Posaunen von Jericho. Eine ironisch gewürzte Medienanalyse.

Endzeitlich gestimmte Evangelikale wie auch orthodoxe Juden sahen im Coronavirus wahlweise eine Strafe Gottes für Homosexuelle, Umweltschützer, für chinesische Kommunisten, schlicht für Ungläubige en gros. Triage also von ganz oben? Die ketzerische Frage, warum diese Strafe dann auch Bi- und Heterosexuelle, Umweltsäue wie die Oma im Hühnerstall, chinesische Bürgerrechtler und relativ harmlose Agnostiker traf, versank gottgefällig im Sumpf irgendeiner Vorhölle. Und, gelungener Treppenwitz der Weltgeschichte, der strenggläubige israelische Gesundheitsminister Yaakov Litzman erkrankte selbst an Covid-19, nachdem er die Auflagen seines eigenen Ministeriums missachtet und einen Gottesdienst besucht hatte.

Klerikales Rollback: Priester und Theologen wissen, wo’s langgeht

Vor Ostern aber wollten die großen christlichen Sekten endlich ihre Lufthoheit im Götterhimmel wiedergewinnen. Göttliche Fügung, dass der australische Kardinal Pell in der Berufung vorm Obersten Gericht vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs freigesprochen wurde. Da menschelte es sich nicht nur beim "Wort zum Sonntag" gleich viel leichter und publikumswirksamer, auch der Papst und hohe Geistliche spendeten jede Menge Sondersegen online und auf leeren Plätzen. Gottesdienste wurden internetfähig und coole Priester predigten per Motorroller und Mini-Mikroanlage vor Straßenrand-Christen. Allüberall aufsuchende Gehirnwäscherei. Der Theologe Peter Dabrock beriet als Vorsitzender des Deutschen Ethikrates sogar die Bundesregierung, obwohl bis heute eigentlich niemand genau weiß, was der Gegenstand einer wissenschaftlichen Forschung und Lehre über "Gott" denn so sein könnte.

Corona-Pandemie und die "Revolution des Mitgefühls"

Nur damit Sie’s wissen. Atheist bin ich nicht. Wie soll man auch die menschengemachte Fiktion allerlei Götter rechtschaffen verneinen? Ich bin da eher Pro-Theist, finde die Auseinandersetzung mit der Bibel als Propheten- und Evangelisten-Sampler und mit der literarischen Figur "Gott" unter kultur- und literaturwissenschaftlichen Aspekten eher spannend. Ansonsten kann ich in meinem Alltag omnipräsenten abergläubischen Mummenschanz meist rechts liegen lassen. Allerdings müsste ich konsequenterweise dazu auch unser Zeitungs-Abo bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) kündigen. Denn alljährlich vor Ostern (und anderen christlichen Feiertagen) wird die WAZ vollends zum Käse- und Kirchenblättchen und mir als Freigeistlichem unerträglich.

Nicht nur der Essener Ruhr- und Militärbischof Franz-Josef Overbeck kommt zum tausendsten Mal zu Wort, auch die Evangelen halten kräftig mit. Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), ist schließlich auch fotogen und massenkompatibel, fast wie ein Clooney-Klon für einen Film "Heaven's Eleven" (coming soon). Im WAZ-Interview spricht er davon, dass die Corona-Krise eine "Revolution des Mitgefühls" ausgelöst habe. Als Intimus des Messias versteht auch er es vorzüglich, das Evangelium in "Leichter Sprache" rüberzubringen, da darf sich noch der letzte Corona-Party-Gänger aus Ischgl per WAZ-Hirtenbrief wie ein "Quasi"-Gekreuzigter fühlen: "Wir erleben die Passionszeit gerade quasi am eigenen Leib. Menschen machen jetzt die Erfahrung, die Jesus selbst gemacht hat. Er hat Angst gehabt und gebetet: Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Am Kreuz hat er geschrien: 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen.' Diese Gefühle von Gottverlassenheit spüren im Moment viele Menschen ..."

Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie

Wie sich in diesen Tagen klerikale Reformruinen zum Trostspender aufschwingen, die Bekämpfung der Corona-Pandemie in die christliche Leidens- und Heilsgeschichte quetschen, ist schlicht auch ohne jede Covid-19-Erkrankung atemberaubend. Vielleicht liegt es daran, dass sie froh sind, nicht mehr über den Zölibat, den Missbrauch, die Rolle der Frau in den Kirchen oder das Kirchenvermögen diskutieren zu müssen. Da reden sie doch lieber über etwas, wo sie sich auch gut auskennen: über das Leben nach dem Tod und nach der Krise, über unbefleckte Nächstenliebe und Auferstehung.

Der Papst sieht in einem Interview zur Corona-Pandemie dann gleich auch die Riesen-Chance zur Umkehr ... aller anderen: "Jetzt sei die Zeit, von der Heuchelei zum Handeln überzugehen und einen grundlegenden Wandel in Politik, Wirtschaft und persönlichem Handeln einzuleiten (...)." Dabei sollte für die katholische Kirche aber bitteschön durchaus etwas abfallen: "Vieles stehe auf dem Spiel, so Franziskus, die Krise biete zugleich 'eine Gelegenheit zur Bekehrung'".

Der Papst wäre allerdings nicht der Papst, käme er nicht noch so richtig zur Sache: "Es gelte, sich aus der 'hypervirtuellen, körperlosen Welt dem leidenden Fleisch der Armen' zuzuwenden." Na ja, ich persönlich fände das unangebracht, aber Franziskus weiß: "Wenn wir nicht damit beginnen, wird es keine Bekehrung geben", warnt der Papst. Einige Regierungen der Welt hätten "beispielhafte Maßnahmen ergriffen, um die Bevölkerung zu schützen", merkt er an. Allerdings werde in der Krise deutlich, dass sich alles um die Wirtschaft drehe. Die Welt sei "von Kopf bis Fuß" durch eine "Politik der Wegwerfkultur" durchdrungen, was sich auch in heute üblichen Praktiken wie vorgeburtlicher Selektion und legal praktizierter Euthanasie zeige.

Na also, geht doch, nebenbei noch schnell eine Lanze gebrochen für den ideologischen Kampf gegen Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe. Wozu so ein Virus doch gut ist, mit Angst hat Kirche schon immer nicht nur die Dümmeren der Schäfchen wieder eingefangen.

WAZ und Jesus-Christ-Superstar

In der WAZ wird dieses ganz große Geraune allerdings wie jede andere Top-Droge gestreckt, portioniert und auf der Straße an die Glaubens-Konsumenten vertickt. Und da dürfen dann auch Evangelische mitreden. Sogar ihr protestantischer Jesus ist – wundere sich, wer will – mitten unter uns. Im Gelsenkirchener Lokalteil heißt es unter dem Titel "Superintendent macht zu Ostern Mut": "Die biblische Botschaft von der Auferstehung Jesu, die fällt nicht aus. Beim nochmaligen Lesen der Geschichte ist mir aufgefallen, dass die Jünger in der gleichen Situation waren wie wir in der Corona-Krise. Sie haben sich eingeschlossen aus Angst vor dem Tod. (...) Und dann stand Jesus plötzlich in ihrer Mitte, nahm ihnen die Angst."

Überdosis Weihrauch? Oder: "Ostern in der Tüte"

So kocht also vom Evangelikalen bis zum Evangelen, vom theologischen Kathedermann bis zum Katholen noch jeder sein Corona-Süppchen. Und diese dürftige Suppe ist zum Auslöffeln für alle gedacht. Noch einmal Superintendent Heiner Montanus im WAZ-Lokalteil aus Gelsenkirchen: "Wir Christen sind schließlich nicht nur für die traditionellen Gottesdienstbesucher da, sondern für die gesamte Stadt und die Welt." Explizit zuständig also für "Urbi et orbi", Krethi und Plethi, Hinz und Kunz. Hilft nix, bei dieser Mission braucht die Kirche jeden Hilfsprediger, den sie kriegen kann, sogar Lokalredakteure der Gelsenkirchener WAZ. Und die danken’s, schreiben und drucken gottgefällig ein ums andere Mal Notizen und Artikelchen wie "Virtuelles Tischabendmahl in Epiphanias", "Palmsträuße werden verschenkt", "Konzert zum Abschied des Kantors" und last but not least "St. Hippolytus verschickt 'Ostern in der Tüte'".

So eine Tüte hätte ich auch gern. Bitte!

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