Moralvorstellungen in den USA

Der Zeitgeist ruft

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Die Moralvorstellungen der US-Amerikaner:innen sind so liberal wie nie. Zu diesem Ergebnis kommt eine seit 2001 jährlich durchgeführte Umfrage der Analytikfirma Gallup. Auch die jährlich durchgeführte Befragung "American Worldview Inventory" der Arizona Christian University zeigt, dass besonders jüngere Menschen sich immer weniger mit biblischen Moralvorstellungen  identifizieren. Die stärkste Polarisierung lässt sich bei den Themen Abtreibung und Transgeschlechtlichkeit beobachten.

Seit 2001 befragt Gallup jährlich US-Amerikaner:innen zu deren Moralvorstellungen. In der diesjährigen Ausgabe tauchte erstmals die Frage nach der Akzeptanz einer geschlechtlichen Transition auf. Gallup zufolge identifizieren sich mittlerweile 0,6 Prozent der US-Amerikaner:innen als transgender, das entspricht etwa 14 Millionen Menschen.

Die Umfrage zeigt, dass Transgeschlechtlichkeit – neben Abtreibungen – das mit Abstand umstrittenste moralische Thema in der US-amerikanischen Öffentlichkeit ist: 46 Prozent der Befragten halten geschlechtliche Transitionen für moralisch akzeptabel, 51 Prozent für moralisch falsch.

Gallup: USA so progressiv wie nie zuvor

Aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht und politischer Positionierung ergibt sich ein noch polarisierenderes Bild: In der Altersgruppe 18 bis 49 hält die Mehrheit Geschlechtstransitionen für moralisch in Ordnung, bei den Ab-50-Jährigen zeigt sich eine gegenteilige Mehrheit. Während 78 Prozent aller sich als "liberal" definierenden US-Amerikaner:innen Transgeschlechtlichkeit moralisch gutheißen, vertreten lediglich 23 Prozent der "konservativ" Eingestellten diese Position.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die gesamtgesellschaftliche Position zu Transgeschlechtlichkeit, analog zur wachsenden Akzeptanz von Homosexualität, verändert, oder ob das Thema ähnlich umstritten bleibt wie die Frage nach Schwangerschaftsabbrüchen: Zum ersten Mal seit 2001 sind in der Gesamtbevölkerung die Abtreibungsbefürworter:innen in der Mehrheit, wenn auch nur knapp. 47 Prozent halten Abtreibungen für moralisch in Ordnung, 46 Prozent für moralisch inakzeptabel. Historische Höchstwerte in Sachen moralischer Akzeptanz erzielen die Themen Abtreibung, Scheidung, Homosexualität sowie die Zeugung von Kindern außerhalb einer ehelichen Gemeinschaft. Die Moralvorstellungen der USA zeigen in sozialen Fragen einen klar progressiven Trend; bei keinem der abgefragten Themen konnte Gallup in den letzten 20 Jahren eine Verschiebung hin zu konservativen oder traditionalistischen Positionen erkennen.

"Millenials wollen einen Staat ohne Gott, Bibel und Kirchen"

Mit diesen markanten Worten beginnt die Zusammenfassung der "American Worldview Inventory 2021", einer jährlich durchgeführten Befragung der Arizona Christian University (ACU). 2.000 Erwachsene wurden zu ihren Moralvorstellungen und der Rolle des Christentums in ihrem Leben befragt, die Ergebnisse nach vier Altersgruppen aufgeschlüsselt. Die Antworten zeigen, dass die Bedeutung der christlichen Lehren immer geringer wird, je jünger die Befragten sind.

Während bei den bis 1945 Geborenen, den sogenannten "Builders", noch jede:r Zweite angibt, Lebenszweck aller Menschen sei, Gott zu dienen, vertreten nur 19 Prozent der Millenials (geboren zwischen 1984 und 2002) diese Auffassung. Zwei Drittel aller Builders glauben, das Universum sei vom christlichen Gott geschaffen worden – lediglich 30 Prozent der Millenials schließen sich dieser Überzeugung an.

Die ACU zitiert den Soziologen George Barna, der in den USA bereits als Pastor tätig war: "Speziell die Generation der Millenials scheint ein Leben ohne Gott, ohne Bibel und ohne christliche Kirchen als Fundament der US-amerikanischen Gesellschaft führen zu wollen. (...) Eine lautere, eindeutigere und direktere Herausforderung für die Zukunft des christlichen Glaubens in den USA kann man sich kaum vorstellen."

Diese Herausforderung des Status Quo durch die junge Generation hat eine idelle, aber auch eine materielle Dimension. Die ACU kommt zu dem Ergebnis, dass Millenials und die GenX (geboren zwischen 1965 und 1984) zunehmend infrage stellen, dass materieller Wohlstand gottgewollt ist. Als eines der Kernthemen der Millenials identifiziert Barna den Wunsch nach einem stärkeren Staat, der sich die Verbesserung der Lebensqualität aller zur Aufgabe macht. Diese Forderung steht in unversöhnlichem Gegensatz zur Annahme, Reiche seien reich, weil das Gottes Wille ist, die als ideeller Unterbau konservativer Positionen zu ökonomischen Verteilungsfragen betrachtet werden kann. Davon ausgehend ist jede Form der Umverteilung gleichzusetzen mit Blasphemie.

Und eben dies ist des evangelikalen Pudels Kern: theologisch legitimierte Ungleichheit. Der Glaube an einen Gott, der Vermögensverhältnisse festlegt, erstickt jede Forderung nach Fairness direkt im Keim. Er diffamiert a priori all jene, die auch nur den Versuch wagen, objektive Erklärungen für hungernde Kinder oder eine durch Abwesenheit glänzende allgemeine Krankenversicherung in einem der reichsten Länder der Erde zu finden. Die Abkehr von christlichen Prinzipien ist in den USA also nicht nur eine ideelle Positionierung, sondern auch eine politische. Es ist eine Kampfansage an Amerikas Gotteskrieger.

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