Podiumsdiskussion zu Identitätspolitik

Die Woken und die Rechten: Zwei Fäuste für die Gegenaufklärung?

clubvolantaire24112023d.jpg

Das Podium der Veranstaltung: (v.l.n.r.) Eszter Kováts, Chantalle El Helou, Till Randolf Amelung, Judith Faessler, Sebastian Schnelle, Sinan Kurtulus, Jörg Finkenberger, Malte Clausen, Holger Marcks.

Die Standardperspektive auf die Auseinandersetzung über "Wokeness" und Identitätspolitik war lange Zeit, dass sich linke Verteidiger von Minderheitenrechten und rechte Vertreter der "Mehrheits-" oder "Dominanzgesellschaft" gegenüberstehen. Eine breit besetzte Podiumsdiskussion in Frankfurt (Main) am vergangenen Freitag gab Denkanstöße, dass die Konfliktlinien möglicherweise etwas anders verlaufen.

Eingeladen zur Veranstaltung "Die Woken und die Rechten: Zwei Fäuste für die Gegenaufklärung?" im Saalbau Gutleut hatte der Verein für konstruktiven Sozialismus. Auf dem Podium saßen neun Leute, die durchaus unterschiedliche politische Richtungen repräsentierten. Gemeinsam war ihnen allerdings die Einschätzung, dass "die Woken und die Rechten" bei genauer Betrachtung in einigen grundlegenden Politikauffassungen gar nicht so weit auseinanderliegen.

Die Debatte fand, wie Moderatorin Judith Faessler in ihrem Eingangsstatement festhielt, vor dem Hintergrund einer Begeisterungswelle für ein 20 Jahre altes Video von Osama Bin Laden statt, die kurz zuvor durch die Sozialen Medien geschwappt war. Darin hatte der Al Qaida-Begründer seine Rechtfertigung für die Anschläge vom 11. September 2001 geliefert, und junge TikTok-User:innen hatten daraufhin die holzschnittartige Einteilung der Welt in "gut" und "böse" zur Bewertung des Kriegs im Gazastreifen herangezogen.

Gut gemeint, schlecht argumentiert

Sinan Kurtulus, der in seiner wöchentlichen YouTube-Show "SinansWoche" bereits mehrfach zu Fragen "linker" Identitätspolitik Stellung bezogen hatte, verglich "Wokeness" mit einer Autoimmunerkrankung. Wie das Immunsystem eine sinnvolle Funktion erfülle, sei auch der Ansatz, wachsam gegenüber Diskriminierung zu sein, sinnvoll. Wenn die Aktivitäten jedoch dahin umschlagen, dass jede Kritik am eigenen Ansatz reflexartig attackiert wird, ohne sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen, überwiegen die negativen Auswirkungen auf Gesellschaft und politischen Diskurs.

Daran knüpfte der in der Extremismusforschung tätige Sozialwissenschaftler Holger Marcks an: "Gut gemeint" sei eben nicht automatisch "gut". Er verwies darauf, dass die ursprünglich in linken und linksradikalen Kontexten diskutierten identitätspolitischen Konzepte mittlerweile in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft, vor allem im akademischen Bereich, angekommen seien. Dabei hätten sich diese Konzepte aber verändert. Die "Subalternen" (also die von Teilhabe weitgehend Ausgeschlossenen) fühlten sich von den Parteien, die sich diesen identitätspolitischen Positionen geöffnet haben, nämlich keineswegs repräsentiert. Das zeigten die Wahlergebnisse der letzten Zeit.

Verletzte Gefühle, politische Resignation

Als Transmann gehört Till Randolf Amelung eigentlich zu einer jener Gruppen, für die sich linke Identitätspolitik ihrem Anspruch nach einsetzt. Amelung, laut Tageszeitung taz einer der interessantesten und freundlichsten Publizisten aus dem queeren Spektrum, möchte beim "Opferbingo" aber nicht mitspielen, setzt weniger auf "verletzte Gefühle" – also subjektive Empfindungen – als auf eine rationale Auseinandersetzung. Denn er weiß, dass Menschen dieselbe Identität und trotzdem sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen haben können.

Auch Chantalle El Helou, die in Jena Politikwissenschaft studiert und den Essay "Vom Queersexismus zur Emanzipation" veröffentlicht hat, kritisierte, dass die "individuellen Bestimmtheiten" mit Identität gleichgesetzt werden. Dieser definitorische Kurzschluss unterstelle eine Distanzlosigkeit zur eigenen Identität.

Die ungarische Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts, die an der Universität Wien tätig ist, verschob die Perspektive etwas, indem sie daran erinnerte, dass in Ungarn eine rechte Cancel Culture vorherrscht, die sich explizit in Abgrenzung zum "Wokismus" definiert und vorgibt, Ungarn gegen diese Einflüsse zu schützen. Doch auch wenn es diese Kritik aus der rechten Ecke gebe, müsse die "woke" Gesellschaftskritik trotzdem als moralisierend eingestuft werden, denn sie habe nur das individuelle Verhalten im Blick. Darin sieht Kováts einen Ausdruck politischer Resignation.

Politik für wen?

Inwieweit der "woke" Aktivismus wirklich für die Marginalisierten spricht, thematisierte Jörg Finkenberger, Mitherausgeber der Zeitschrift "Das Grosse Thier". Er habe eher den Eindruck, es werde nur der "Sound" einer ursprünglich authentischen Bewegung aufgegriffen und für eigene Zwecke genutzt.

Sebastian Schnelle, der den Podcast "Vorpolitisch" verantwortet, sieht als wichtigen Punkt den Übergang der Critical Theories in den Aktivismus an. Während frühe Texte sehr differenziert argumentieren und emanzipatorische Zielsetzungen verfolgen, seien die Aussagen später radikal vereinfacht worden, was zur heute oft anzutreffenden simplen Gegenüberstellung von Gruppen geführt habe.

Position beziehen im nicht ganz herrschaftsfreien Diskurs

Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass Konzepte, die den Anspruch erheben, Gesellschaft zu verändern, kritisch diskutiert und auf ihren Erfolg hin überprüft werden. Doch alle auf dem von Malte Clausen und Judith Faessler souverän geleiteten Podium haben schon erfahren müssen, dass die Auseinandersetzung über Identitätspolitik nicht gerade im "herrschaftsfreien Diskurs" geführt wird. Persönliche Angriffe, die Bezeichnung als "Token" (das heißt "Feigenblatt"), "neurechts", "rassistisch", "transfeindlich" und so weiter,  beziehungsweise der Vorwurf, neurechte (und so weiter) Auffassungen zu bedienen, sind an der Tagesordnung. Sinan Kurtulus empfahl in solchen Fällen: Einfach aushalten und weiter argumentieren. Obwohl er einräumte, dass derartige Angriffe ihn auch treffen.

Gerade wer in "woken" Positionen Schnittmengen zu rechtem Gedankengut oder rechten Vorgehensweisen sieht, kann nicht einfach wegschauen, sondern muss den Konflikt annehmen. Und dass es diese Schnittmengen gibt, scheint nicht von der Hand zu weisen: die Mobilisierung von Gefühlen, wo sachliche Analyse notwendig wäre (Stimmung statt Politik); die Einteilung der Menschen in Gruppen auf der Grundlage einer Identität und damit verbunden die oft hasserfüllte Ablehung von "Anderen"; ein Verständnis von "Gesellschaftskritik", das sich auf individuelles Verhalten konzentriert; die Übernahme von Methoden der Repression...

Skeptische Gesellschaft

Dass mehr als die Hälfte derer, die auf dem Podium saßen, Mitglied in der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) waren, legt einen Zusammenhang der Veranstaltung mit dem Konflikt in der Skeptiker-Organisation nahe, wie Critical Studies und der damit verbundene Aktivismus einzuschätzen sei. In einem Grußwort nahm der langjährige GWUP-Vorsitzende Amardeo Sarma darauf und auf die Gründung des Informationsnetzwerkes "Skeptische Gesellschaft" Bezug. Ein skeptischer Blick auf fragwürdige Gesellschaftstheorien und sich daraus ableitende politische Konzepte ist gerade in Zeiten wie diesen dringend geboten.

Die Veranstaltung wird in absehbarer Zeit auch als Video dokumentiert werden. Informationen dazu werden sich dann auf https://club-volantaire.de/ finden.

Unterstützen Sie uns bei Steady!