Kopftuchurteil in Berlin

Wenige Wochen zu spät

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Während der Verhandlung vor dem Berliner Arbeitsgericht.
Während der Verhandlung vor dem Berliner Arbeitsgericht.

Im Februar berichtete der hpd über ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin, welches einer muslimischen Lehrerin eine Entschädigung zusprach, weil das Land Berlin sie wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt hatte. Das Urteil war nach der Verkündung nur mündlich begründet worden. Nun liegt auch die detaillierte schriftliche Urteilsbegründung vor. Überzeugen kann sie nach Ansicht von Rechtsanwältin Jacqueline Neumann nicht. Dies insbesondere auch mit Blick auf die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Achbita und der Rechtssache Bougnaoui, welche jedoch erst im März ergingen und damit für die Beurteilung des vorliegenden Falls wenige Wochen zu spät kamen.

Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts (LAG) hat das beklagte Land gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) aus Gründen der Religion verstoßen. Das LAG argumentierte, dass das beklagte Land die Klägerin unmittelbar wegen ihrer Religion benachteiligt habe, indem es ihr die Beschäftigung an einer allgemeinbildenden Schule im Land Berlin versagt habe, weil sie als gläubige Muslima auch im Dienst ein islamisches Kopftuch tragen wollte.

Das Land hatte sich seinerseits auf die eindeutige Regelung in § 2 Satz 1 des Berliner Neutralitätsgesetzes (NeutrG) berufen, an das die Berliner Verwaltung nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 3 GG bis zu einer Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht gebunden ist.

§ 2 NeutrG lautet:

"Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht."

Sodann diskutierte die Kammer, ob die unterschiedliche Behandlung der Klägerin im Vergleich zu den anderen Bewerberinnen möglicherweise gemäß § 8 Abs. 1 AGG zulässig gewesen war. Nach § 8 Abs. 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Religionszugehörigkeit zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt und der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.

Unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen zulässig? Laut Vorinstanz: ja

Aufschlussreich ist insofern zunächst ein Blick auf die Ausführungen der Vorinstanz (ArbG Berlin, Urteil vom 14. April 2016 – 58 Ca 13376/15).

Diese hatte bezüglich § 8 Abs. 1 AGG argumentiert, dass eine unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen hier zulässig sei, da die Verpflichtung von Lehrkräften nach § 2 NeutrG, auffallend religiös geprägte Kleidungsstücke nicht zu tragen, eine wesentliche berufliche Anforderung für die Unterrichtstätigkeit der Klägerin an einer Grundschule darstelle. Die Voraussetzungen einer unterschiedlichen Behandlung lägen vor, denn das NeutrG verfolge einen rechtmäßigen Zweck, namentlich die Wahrung des Grundsatzes staatlicher Neutralität. Diese gesetzgeberische Zielsetzung qualifizierte das erkennende Gericht auch als rechtmäßigen Zweck i.S.v. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG.

Da § 8 Abs. 1 AGG der Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht dient, ist § 8 Abs. 1 AGG unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit der Richtlinie und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EUGH auszulegen. Auch die Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind bei der Auslegung zu berücksichtigen, denn gemäß den Erwägungsgründen Nr. 1, Nr. 4 und Nr. 5 soll die Richtlinie 2000/78/EG auch der Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten der EMRK dienen. Unabhängig davon sind die Urteile des EGMR aber auch bei der Auslegung der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes heranzuziehen. Folgerichtig zitierte die Vorinstanz dementsprechend auch das Urteil des EGMR vom 10. November 2005 (44774/98), wonach das Kopftuchverbot an eine schweizerische Grundschullehrerin mit der Religionsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sei.

Sodann bejahte das Arbeitsgericht auch die Angemessenheit der Anforderung i.S.d. § 8 Abs. 1 AGG. Erst im Rahmen dessen ging es auf das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Januar 2015 (1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10) ein. In dieser Entscheidung hatte das BVerfG geurteilt, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen verfassungswidrig sei und das Verbot religiöser Bekundungen eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden bzw. für die staatliche Neutralität voraussetze. Das Kopftuchverbot des § 2 NeutrG sei, so das Arbeitsgericht überzeugend, jedoch auch unter Berücksichtigung des jüngsten BVerfG-Urteils nicht verfassungswidrig. Denn die Berliner Regelung sehe im Gegensatz zu der damals streitgegenständlichen Regelung des Schulgesetzes in NRW keine gleichheitswidrige Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Symbole vor. Überdies gelte das Verbot religiöser Bekleidung nach § 3 Neutralitätsgesetz nicht für die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen. Treffend verwies das Arbeitsgericht zudem auf die Einschätzungsprärogative des Landesgesetzgebers, welche auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2015 fortbestünde.

Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers trotz Kopftuchurteil des BVerfG im Jahr 2015

Dass die Einschätzung des Gesetzgebers zu den religiösen Konfliktpotentialen für die Schulen des Landes Berlin besonders realitätsnah sei, sah das Arbeitsgericht durch eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 27.05.2010 – OVG 3 B 29.09) bestätigt. In dem Rechtsstreit hatte ein Schüler auf Gebetsverrichtung in der Schule geklagt und das Gericht hatte im Rahmen dessen die ausgeprägte religiöse Heterogenität an dem Gymnasium beschrieben: die Schülerschaft des Gymnasiums umfasse 29 Herkunftsnationalitäten und sämtliche Weltreligionen. Unter den Muslimen befanden sich allein drei Glaubensrichtungen, nämlich Sunniten, Schiiten und Aleviten, und unter den Christen sogar fünf Glaubensrichtungen, nämlich Protestanten, Katholiken, russisch-orthodoxe, serbisch-orthodoxe und syrisch-orthodoxe Christen (Aramäer). Hinzu kämen Schüler mit atheistischer Einstellung. In dem Urteil wurde die Situation an der Schule wie folgt dargestellt:

"So hätten sich Konflikte ergeben, weil eine Reihe von Schülerinnen und Schülern nicht den Verhaltensregeln gefolgt seien, die sich aus einer bestimmten Auslegung des Koran ergeben würden, wie z.B. Kopftuchzwang, Fasten, Abhaltung von Gebeten, Verbot des Verzehrens von Schweinefleisch, Vermeidung "unsittlichen Verhaltens" und "unsittlicher" Kleidung sowie persönlicher Kontakte mit "unreinen" Mitschülern. Diese Konflikte seien teilweise sehr heftig und auf nicht akzeptable Weise ausgetragen worden; zu nennen seien beispielhaft Mobbing, Beleidigungen, insbesondere auch mit antisemitischer Zielrichtung, Bedrohungen und sexistische Diskriminierungen. Schüler hätten sich während der Fastenzeit mit der Folge kontrolliert, dass z.B. eine Schülerin, die sich während des Ramadan einen Müsliriegel in der Schulcafeteria gekauft habe, deswegen als "minderwertige Muslimin" zurechtgewiesen worden sei. Schülerinnen, die der alevitischen Glaubensgemeinschaft angehörten und daher kein Kopftuch trügen, seien ebenso wie solche Schülerinnen, die kundtäten, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören, beschimpft bzw. angepöbelt worden. Eine Schülerin sei von mehreren anderen Schülerinnen aufgefordert worden, den Kontakt zu einem Mädchen abzubrechen, weil dieses sich in vermeintlich unstatthafter Weise geschminkt habe. Festzustellen sei auch, dass antisemitische Einstellungen weit verbreitet seien mit der Folge, dass jüdische Schülerinnen und Schüler sich teilweise nicht zu erkennen geben oder die Schule verlassen würden. Jüdische bzw. israelische Symbole würden häufig beschmiert oder auf andere Weise verunglimpft. Von Schülern mit Migrationshintergrund würden deutsche Schülerinnen und Schüler als zu weich und als solche, die man unterdrücken müsse, bezeichnet und gelegentlich mit Schimpfwörtern wie "Schweinefleischfresser“ und "Scheiß-Christen“ diskreditiert. Soweit die Schule in der Lage gewesen sei, die beteiligten Schülerinnen und Schüler zu einem Gespräch zusammenzubringen, hätten sich die den Konflikt schürenden Schüler regelmäßig darauf berufen, dass der Koran ihr Verhalten legitimiere." (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Mai 2010 – OVG 3 B 29.09 –, Rn. 35, juris)

Diese Darstellung bestätigte nach Auffassung des Arbeitsgerichts beispielhaft die Existenz von religiös bedingten Konflikten an den Berliner Schulen.

Rechtsanwältin Dr. Jacqueline Neumann, Foto: © Evelin Frerk
Rechtsanwältin Dr. Jacqueline Neumann, Foto: © Evelin Frerk

Weiter betonte es, dass die Lehrkräfte als Amtsträger der fördernden Neutralität des Staates auch in religiöser Hinsicht verpflichtet seien, da der Staat nur durch seine Amtsträger handeln könne und kein anonymes Wesen sei.

Ähnlich hatte auch der EGMR in seinem Kopftuch-Urteil aus dem Jahr 2005 argumentiert: Eine Lehrerin in öffentlichen Schulen sei eine Vertreterin des Staates. Oftmals sogar Beamtin. Daher habe die Religionsfreiheit der Lehrerin ein geringeres Gewicht, wenn sie abgewogen werde mit den Rechten und Pflichten der anderen Beteiligten. Zum Beispiel mit dem staatlichen Erziehungsauftrag, der neutral zu erfolgen habe, dem elterlichen Erziehungsrecht und der negativen Glaubensfreiheit der Schüler.

Unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen zulässig? Das LAG sagt: nein

Das Landesarbeitsgericht sieht das – sofern es überhaupt darauf eingeht – anders: Das Unterlassen des Tragens eines islamischen Kopftuches sei keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Tätigkeit einer Lehrerin an einer allgemeinbildenden Schule in der Primarstufe oder der Sekundarstufe I in Berlin. Die ordnungsgemäße Durchführung dieser Tätigkeit hänge nicht davon ab, ob die Lehrerin ein islamisches Kopftuch trage oder nicht, sondern davon, ob die Lehrerin die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt für die Bildungsgänge der Sekundarstufe I und der Primarstufe an allgemeinbildenden Schulen bestanden habe. Mit diesem Abschluss sei eine Lehrerin, die ein islamisches Kopftuch trage, ohne weiteres dazu in der Lage, Kinder zu unterrichten.

Diese formaljuristische Argumentation greift nach hiesiger Auffassung jedoch zu kurz. Sie verkennt die gesellschaftliche Realität. Sie blendet aus, dass die religiöse Vielfalt in der Gesellschaft zu einem vermehrten Potenzial von Konflikten auch in der Schule geführt hat. In dieser Lage ist der Schulfrieden schon durch die berechtigte Sorge der Eltern vor einer ungewollten religiösen Beeinflussung ihrer Kinder gefährdet. Das religiös bedeutungsvolle Erscheinungsbild der Lehrkräfte kann dazu Anlass geben (so zutreffend Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. August 2009 – 2 AZR 499/08 m.w.N.). Insofern kann man die Einhaltung der staatlichen Neutralitätspflicht sehr wohl als eine wesentliche berufliche Anforderung für Repräsentanten des Staates qualifizieren.

Das LAG argumentiert ferner, dass das in § 2 NeutrG normierte pauschale Kopftuchverbot für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen deren Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verletze. Die Kammer habe sich der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in der zweiten Kopftuchentscheidung angeschlossen. Bei dieser – in Urteilen oft anzutreffenden – Floskel belässt es das Gericht, als ob sich eine Begründung im konkreten Einzelfall dadurch erübrigen würde. Es befasst sich nicht einmal ansatzweise mit der Frage, wie sich die beiden gegensätzlichen Kopftuch-Entscheidungen des BVerfG von 2003 und 2015 zu einander verhalten (s. hierzu Czermak, Lehrerinnen-Kopftuch oder Neutralität?, hpd 14.02.2017).

Auch zu dem komplexen Zusammenspiel der unterschiedlichen Regelungen des europäischen Mehrebenensystems und dem Verhältnis der Rechtsprechung des EGMR zur divergierenden Rechtsprechung des BVerfG verliert das Gericht kein Wort. Und dies obwohl mit § 8 Abs. 1 AGG eine Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht erfolgte und § 8 Abs. 1 AGG dementsprechend unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit der Richtlinie und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EUGH und des EGMR auszulegen ist.

Auch hegte das Gericht erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 2 NeutrG, thematisierte jedoch nicht die Vereinbarkeit von § 2 NeutrG mit dem Unionsrecht. Dies wäre konsequenterweise jedoch angezeigt gewesen, da im Falle der Unvereinbarkeit von § 2 NeutrG mit Unionsrecht, insbesondere der Richtlinie 2000/78/EG, die Norm wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts bereits unanwendbar gewesen wäre. Insofern hätte auch die Anstrengung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof nahe gelegen.

Das LAG befasst sich jedoch nur mit dem nationalen Recht. Aber auch die insoweit vorgelegte Argumentation überzeugt leider nicht.

Die Regelung in § 2 NeutrG verstoße, so das LAG, gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und müsse deshalb verfassungskonform ausgelegt werden: § 2 Satz 1 NeutrG sei dahin auszulegen, dass Voraussetzung für das Verbot des Tragens von auffallend religiös geprägten Kleidungsstücken nicht nur das Vorliegen einer abstrakten Gefahr, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr für die religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber den Schülern und/oder für den Schulfrieden sein müsse.

Verfassungskonforme Auslegung des § 2 Satz 1 NeutrG Berlin entgegen dem Wortlaut

Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht hielt die Kammer für nicht erforderlich. Sie begründet diese Auslegung mit einem systematischen Argument: Das Verbot gelte nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr, denn § 3 Satz 2 NeutrG ließe Ausnahmen vom Verbot des § 2 Satz 1 NeutrG zu. Danach könne die oberste Dienstbehörde Ausnahmen von dem pauschalen Verbot zulassen, wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber Schülerinnen und Schülern nicht infrage gestellt und der Schulfrieden nicht gefährdet oder gestört werde.

Dabei verkennt das LAG jedoch, dass die Regelungen des § 2 Satz 1 NeutrG und des § 3 Satz 2 NeutrG in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander stehen. Das pauschale Kopftuchverbot in § 2 Satz 1 NeutrG bildet die Regel und § 3 Satz 2 NeutrG lässt hierzu Ausnahmen im Einzelfall zu. Mit seiner Auslegung setzt das LAG jedoch die Ausnahme an die Stelle der Regel und sich selbst an die Stelle der Exekutive. Gewaltenteilung sieht anders aus.

Überdies ist das Tatbestandsmerkmal der Gefährdung des Schulfriedens oder der weltanschaulich-religiösen Neutralität im Wortlaut des § 2 Satz 1 NeutrG überhaupt nicht enthalten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Methoden der Gesetzesauslegung bildet der Wortlaut einer Norm jedoch die Grenze verfassungskonformer Auslegung. Zudem gilt, dass in Fällen, in denen der Wortlaut der Norm klar und eindeutig ist, ein Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden (hier eine systematische Auslegung) untersagt ist. Eine Gesetzesauslegung, welche sich vom Konzept des Gesetzgebers löst und es durch ein eigenes Modell ersetzt, stellt überdies eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung dar. Auch der Wissenschaftliche Parlamentsdienst des Berliner Abgeordnetenhauses hatte in einem Gutachten vom 25. Juni 2015 bereits auf die fehlende Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des NeutrG hingewiesen.

Keine konkrete Gefährdung des Schulfriedens an allen Berliner Schulen, nur an einigen

Auf der Grundlage der von ihm vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung, welche eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens fordert, hält das LAG dem beklagten Land sodann vor, dass dieses vorliegend nicht behauptet hätte, dass das äußere Erscheinungsbild gerade der Klägerin zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führe oder wesentlich dazu beitrüge. Das beklagte Land habe auch nicht behauptet, dass in den Schulen aller Berliner Bezirke aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht werde. Hinsichtlich der vom Arbeitsgericht zitierten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zu einem Berliner Gymnasium begnügt sich das LAG mit dem Hinweis, dass nicht erkennbar sei, dass solche Zustände in sämtlichen Berliner Schulen herrschen. Dies mag, so das LAG weiter, in Bezirken wie z. B. Kreuzberg, Neukölln oder im Wedding der Fall sein, in denen möglicherweise die Mehrzahl der Schüler einen Migrationshintergrund hat und möglicherweise in der Überzahl dem islamischen Glauben angehört. Aufgrund welcher Tatsachen aber solche substantiellen Konfliktlagen beispielsweise auch in Frohnau, Dahlem, Grunewald oder Schmargendorf bestehen könnten, sei nicht ersichtlich.

Solange also nur in Kreuzberg, Neukölln und im Wedding, nicht aber in Frohnau, Dahlem, Grunewald oder Schmargendorf jüdische bzw. israelische Symbole beschmiert, deutsche Schüler als "Schweinefleischfresser" und "Scheiß-Christen" bezeichnet und muslimische Mädchen, die sich während des Ramadan einen Müsliriegel in der Schulcafeteria kaufen, deswegen als "minderwertige Muslimin" zurechtgewiesen werden, ist die Welt nach Auffassung des LAG in Ordnung und ein Kopftuch zulässig. Die Entscheidung wann der Schulfrieden gestört wird, wird folglich in die Hände der am System Schule beteiligten Akteure gelegt. Damit haben wir eine ähnlich absurde Situation und eine Umkehrung des Opfer-Täter-Verhältnisses wie durch die Regelung zum Blasphemieparagrafen, bei dem erst der öffentliche Frieden gestört werden muss. Das LAG fordert damit letztlich – ebenso wie das BVerfG vor ihm – also auch zum Faustrecht an den Schulen in unserem Land auf.

Rechtsprechung des EuGH weist in eine andere Richtung: pauschales Verbot rechtmäßig

Dass die Forderung nach einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens nicht richtig sein kann und es auch nicht richtig sein kann, die Entscheidung über ein Kopftuchverbot letztlich in die Hände Dritter zu legen, zeigt auch ein Blick auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Am 14. März 2017 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (C-157/15) entschieden, dass Arbeitgeber das Tragen von Kopftüchern in ihrem Unternehmen verbieten können. Der generelle Wille, im Verhältnis zu den Kunden eine Politik der religiösen, philosophischen und politischen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, sei als berechtigtes Ziel zu qualifizieren und bilde einen Bestandteil der unternehmerischen Freiheit. Dahinter habe die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin zurückzustehen. In einem weiteren Urteil vom selben Tag (C-188/15) führte der EuGH aus, dass der Begriff "wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung" im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG auf eine Anforderung verweise, die von der Art der beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben sei. Der Begriff könne sich nicht auf subjektive Erwägungen wie den Willen des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, erstrecken. Ein Kopftuch-Verbot nur aufgrund der Beschwerde eines Kunden („nächstes Mal keinen Schleier“) sei als nicht gerechtfertigte unmittelbare Diskriminierung zu qualifizieren.

Mithin ist für ein Kopftuchverbot ein Abstellen auf das subjektive Empfinden von Dritten (Kunden bzw. Schülern und Eltern) bzw. einen konkreten Schulkonflikt im Einzelfall gerade nicht zulässig. Die beiden Urteile zeigen, wie die Güterabwägung hinsichtlich des Tragens religiöser Symbole anhand der RL 2000/78/EG vorzunehmen ist. Ein allgemeines Kopftuchverbot ohne Nachweis einer konkreten Gefahr ist unionsrechtskonform. Was für einen privaten Arbeitgeber gilt, welcher seine unternehmerische Freiheit in die Waagschale wirft, muss erst recht für den Staat gelten, bei dem die Religionsfreiheit der Lehrerin gegen den öffentlichen Erziehungsauftrag und die Integrationsfähigkeit des States abzuwägen ist (ebenso Degenhart, Nachdenken über Religionsfreiheit, NJW 15/2017, S. 7).

Wären die beiden Urteile des EuGH wenige Wochen vorher ergangen, hätte das Landesarbeitsgericht sie vielleicht berücksichtigt. Die Entscheidung wäre dann möglicherweise anders ausgefallen.

Das beklagte Land hat nunmehr einen Monat Zeit zu entscheiden, ob es gegen das Urteil Revision beim Bundesarbeitsgericht einlegen will. Zu empfehlen wäre es.

Abschließend sei der Leser darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr noch einige weitere interessante Entscheidungen des EuGH aus dem Bereich des Weltanschauungsrechts zu erwarten sind. Zwei von ihnen betreffen das umstrittene kirchliche Arbeitsrecht und könnten weitreichende Folgen für die Einstellungs- und Kündigungspraxis von Caritas und Diakonie haben (s. hierzu Tischbirek, Staatskirchenrecht aus Luxemburg, Verfassungsblog, 28.02.2017).