Interview

Vernunft als Schlüssel zur Glückseligkeit?

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Der Denker (Skulptur von Auguste Rodin)
Der Denker (Skulptur von Auguste Rodin)

Wer heute als "stoisch" beschrieben wird, gilt als unaufgeregt, als unerschütterlich auch in schwierigen Situationen. In der antiken Philosophie wird die weitgehende Gefühlskontrolle als eine zentrale Voraussetzung von Weisheit angesehen. Andreas Becke heftet sich in seinem neuen Buch "Wie stoisch ist der stoische Weise?" an die Spur, die dieses Idealbild in den verschiedenen philosophischen Schulen im Zeitraum von Sokrates bis Marc Aurel hinterlassen hat. Der hpd sprach mit dem Autor über Vernunft, Lust und Glückseligkeit.

hpd: Welche Charaktereigenschaften umfasst das Idealbild des "Weisen" denn?

Andreas Becke: Die Ruhe und Gelassenheit des stoischen Weisen ist in unsere Alltagssprache übergegangen. Der Weise soll seine Affekte kontrollieren können, Leidenschaften wie Wut, Hass, Neid, Mitleid oder Furcht verfällt er nicht. Der Weise handelt immer wohlüberlegt und vernünftig. Deshalb würde ich sagen, dass Vernunft die charakteristische Eigenschaft des Weisen ist. Dank seiner Vernunft lebt und handelt der Weise moralisch und rechtschaffen in Übereinstimmung mit der Natur und ist frei und somit verantwortlich für sein Tun. Er hat ein erfülltes und glückliches Leben.

Andererseits ist der Weise ein Ideal und kein realer Mensch. Derjenige, der sich seines Nichtwissens gewahr geworden ist, kann bestenfalls seit Platon ein "Freund der Weisheit", ein Philosoph, genannt werden. Die Philosophie sei die Reise, die Weisheit das Ziel, sagt Seneca.

Was wissen wir über die Philosophen, die dieses Idealbild entwickelt und vertreten haben? Was waren das für Menschen?

Die antiken Philosophen haben sich mit Physik, Logik und Ethik beschäftigt, also systematisch Wissenschaft betrieben. Ziel der hellenistischen Philosophenschulen war die Eudaimonie, das gelingende, fließende, glückliche Leben. Bereits Sokrates hatte kritisiert, dass die Menschen sich nur darum kümmern würden, wie sie zu so viel Einkünften wie möglich kommen können und zu viel Ruhm und Ehre, aber um ihre seelische Verfasstheit und geistige Gesundheit kümmern sie sich nicht. Durch die klassischen Tugenden wie Selbstbeherrschung, Mut, Klugheit und Gerechtigkeit wollten Philosophen wie er die Eudaimonie erreichen. Sie betrieben also eine Art Selbstoptimierung und wollten zu besseren Menschen werden.

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Und wen haben sie mit ihren Lehren angesprochen?

Grundsätzlich richtet sich diese Philosophie an alle Erwachsenen. Sokrates hat mit Handwerkern und auf dem Markt diskutiert. Die Tatsache jedoch, dass alle gemeint sind und angesprochen werden sollen, bedeutet umgekehrt bis heute nicht, dass sich auch alle angesprochen fühlen. Die meisten Menschen würden sich für Triebbefriedigungen interessieren, andere rennen Ruhm oder Reichtum hinterher. Das hielten diese Philosophen nicht für den Weg zur Eudaimonie.

Waren die griechischen Philosophen die ersten, die sich mit der Idee vom glücklichen Leben befasst haben?

Das glaube ich nicht. Mit dieser Frage haben sich Menschen beschäftigt, seitdem es Menschen gibt. Wie muss ich mein Leben einrichten, damit es gelingt und ich glücklich bin? Ich würde vermuten, dass sogar die Menschen vor fünfzig- oder hunderttausend Jahren nicht einfach von Not getrieben waren, sondern mit gleich großem Gehirn und genauso intelligent wie wir sich mit dieser Frage befasst haben. Neu ist vielleicht in der hellenistischen Philosophie die Erkenntnis, dass Geld, Macht und Bedürfnisbefriedigung nicht glücklich machen.

Was verbanden die antiken Denker mit der Vorstellung eines weise geführten Lebens?

Weisheit bedeutet, keine falschen Entscheidungen zu treffen und sich nicht zu irren – sonst wäre sie ja keine, sagte Platon. Weisheit ist also ein Ideal, eine Überhöhung des Menschen. Oft wollen wir erreichen, was wir nicht erreichen können oder vermeiden, was wir nicht vermeiden können – das sei nicht klug, meinten die Stoiker. Für die Lebensführung bedeutet das, wohlüberlegte und kluge Entscheidungen zu treffen und keine falsche Meinung zu haben. Überprüftes Wissen und richtiges Handeln stehen in einem engen Zusammenhang. Vor allem die Affekte seien einem glücklichen Leben im Weg. Daher wäre es für mich nicht klug und vernünftig, einen Wutanfall wie ein Kleinkind zu bekommen, nur weil mir jemand zum Beispiel die Vorfahrt genommen hat.

Das hört sich sehr vernunftbasiert an... Spielen Begriffe wie "Lust" oder "Freude" denn keine Rolle?

Jeder Mensch kann natürlich machen, was er will, er muss nur die Konsequenzen seines Handelns übernehmen. Lust und Begierden zu verfolgen, war für die antiken Philosophen auf einem tierischen Niveau. Im Unterschied zum Tier hat der Mensch Vernunft, und die sollte Herr im Hause sein und bestimmen, wo es lang geht, sonst wären wir fremdgesteuert und würden der Tyrannei der Lüste und Begierden unterliegen. Sogar Epikur, der die Lust zum Ausgangspunkt seiner Philosophie der Freude gemacht hat, empfiehlt, Begierden nur zu befriedigen, wenn sie natürlich und notwendig sind. Für weder natürlich noch notwendig hielt er etwa luxuriöse Speisen, Ruhm, Reichtum oder Macht. Begierden und Bedürfnisse zu erzeugen, die man weder hat noch braucht, sahen die hellenistischen Philosophen alle nicht als sinnvoll oder zielführend an.

Ein anderer Aspekt: Mir scheint es, dass sich die Weisheitslehren sehr auf das Individuum konzentrieren. Was sagen die antiken Weisen denn zum gesellschaftlichen Zusammenleben? Propagieren sie eine Veränderung der Zustände?

Das glückliche Leben ist ein individueller Weg. Aber der Mensch kann nur in Gemeinschaft leben, das haben die Philosophen von Aristoteles bis zu den Stoikern betont. Der Weise kann heiraten und Kinder haben, hat sicher Freunde und übernimmt ein politisches Amt, wenn es sein muss. Die Glückseligkeit des Weisen hängt aber nicht von äußeren Umständen ab, sondern von seiner inneren Einstellung. Das schließt doch aber ein gesellschaftliches Engagement und ein Arbeiten an sozialen Bedingungen keineswegs aus. Für Platon und Aristoteles kann auch ein Staat oder eine Gemeinschaft glücklich sein, was vor allem in der Tyrannenherrschaft nicht möglich ist. Unterdrückung muss verhindert werden, damit jeder die Möglichkeit zu einem glücklichen Leben hat.

Gibt es eigentlich eine Entwicklung der Weisheitsvorstellungen (immerhin liegen zwischen Diogenes und Marc Aurel nicht nur ein paar hundert Jahre, sie hatten auch völlig unterschiedliche gesellschaftliche Positionen inne)?

Jeder Autor, jeder Philosoph setzt andere Schwerpunkte. Da kann man immer im Nachhinein eine Linie vom einen zum nächsten hineinzeichnen und behaupten, dies sei eine Entwicklung. Anstatt von einer Entwicklung auszugehen, würde ich jedoch lieber die einzelnen Philosophenschulen betrachten, die miteinander diskutiert, voneinander gelernt und sich gegeneinander abgegrenzt haben. Während die Kyniker auf Unabhängigkeit setzen, ist die Affektfreiheit ein wichtiger Schwerpunkt in der stoischen Ethik. Die Epikureer befriedigen erstmal die notwendigen Bedürfnisse, während die Skeptiker sich jeglicher Meinung enthalten. Und ja, bei den späten Stoikern setzen Seneca, Epiktet und Marc Aurel jeweils eigene Schwerpunkte. Ich würde aber nicht sagen, dass sich das Ideal des Weisen über die Jahrhunderte verändert hat.

Seitdem die antiken Philosophen ihre Konzepte erdachten, haben sich die Lebensumstände fast überall völlig verändert. Was haben uns Zenon und Epikur heute noch zu sagen?

Die Überlegungen der Philosophen nach Sokrates sind so grundlegend, dass wir sie heute noch problemlos auf unser Leben übertragen können. Das naturgemäße, stimmige, harmonische Leben ist für Zenon das Leben nach dem Logos, der Vernunft, was für ihn das gleiche ist wie das tugendhafte, moralisch-rechtschaffene Leben, wodurch wir die Glückseligkeit, die Eudaimonie, erreichen: Wer im inneren Zwiespalt lebt, ist unglücklich. Das ist meiner Ansicht nach heute noch genauso wahr wie vor zweitausend Jahren.

Von den Stoikern können wir daher lernen, vernünftig zu sein und vernünftig zu handeln, um glücklich und nicht gegen die Natur zu leben. Die Stoiker waren am Diesseits interessiert und glaubten weder an ein Jenseits noch an eine unsterbliche Seele. Sie meinten, der Mensch könne aus eigener Kraft zu einem wohlfließenden und glücklichen Leben gelangen. Äußere Dinge dagegen, die wir nicht beeinflussen können, hielten sie für bedeutungslos. Ich finde, davon können wir eine ganze Menge lernen!

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Andreas Becke: Wie stoisch ist der stoische Weise? Antike Philosophie als Lebensweisheit, Aschaffenburg 2023, Alibri Verlag, 239 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-86569-381-5

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