Rezension

"Anarcho-Kapitalismus" als "Kapitalismus ohne Demokratie"

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Der kanadische Historiker Quinn Slobodian macht auf Entwicklungen aufmerksam, welche, so sein Buchtitel, auf einen "Kapitalismus ohne Demokratie" hinauslaufen würden. Gemeint ist die Etablierung von wirtschaftlicher Freiheit eben ohne politische Freiheit, thematisiert anhand von vielen Beispielen aus unterschiedlichen Regionen der Welt.

Als "Anarcho-Kapitalist" stellte sich Javier Mileis der Öffentlichkeit vor, durchaus mit Erfolg, denn er wurde mit diesem politischen Etikett zum argentinischen Präsidenten gewählt. Die Bezeichnung ist gleichwohl im inhaltlichen Sinne unpassend, geht es doch nicht wie bei den Anarchisten um eine egalitäre und herrschaftsfreie Gesellschaft. Denn das "Anarcho" bezieht sich bei den gemeinten "Anarcho-Kapitalisten" primär auf die Negierung des ökonomisch intervenierenden Sozialstaates. Gemeint ist also nicht die Ablehnung von Herrschaft, sondern von Steuern. Die Huldigung eines freien Marktes steht im Zentrum. Dabei muss die ökonomische Freiheit nicht mit einer politischen Freiheit einhergehen, hatte doch etwa die frühere chilenische Militärdiktatur eine marktorientierte Wirtschaftspolitik umgesetzt. Über Auffassungen und Beispiele eines "Kapitalismus ohne Demokratie" legt jetzt Quinn Slobodian mit eben diesem Titel ein neues Werk vor. Es hat "Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen" als Untertitel.

Cover

Damit deuten sich für das Buch sowohl die Form wie der Inhalt an, liefert doch der kanadische Historiker einen besonderen Reisebericht. Einleitend macht er bezogen auf seinen Ansatz deutlich, dass es um eine bestimmte Denkschule und deren Forderungen gehen soll. Gemeint sind die selbsternannten "Anarcho-Kapitalisten", wozu etwa Murray Rothbard zählt. Er negierte auch eine Art "Minimalstaat", der noch von Friedrich August von Hayek als nahestehendem Mitstreiter akzeptiert wurde. Insofern bestehen in dieser Frage auch relevante Unterschiede. Bei den Erstgenannten soll der Staat durch Vertragspraktiken ersetzt werden, im zweiten Fall geht es um eine solche Institution ohne eine soziale Komponente. Anhänger derartiger Auffassungen hätten einschlägige Einrichtungen etabliert, Enklaven und Freihäfen, Stadtstaaten und Steueroasen, Technologieparks und Zollfreibezirke. Indessen stünde es ebendort um die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schlecht, ökonomische Freiheit bedeute eben nicht notwendigerweise auch eine politische Freiheit.

Dies veranschaulichen die Ausführungen zu den jeweiligen Fallbeispielen, wobei der Blick jeweils auf konkrete Projekte fällt. Eine interessante Aussage steht dazu am Beginn. Sie stammt von Stephen Moore, einem Berater von Trump: "Der Kapitalismus ist sehr viel wichtiger als die Demokratie. Ich bin eigentlich kein großer Anhänger der Demokratie". Dass politische Demokratie weniger wichtig als ökonomische Freiheit ist, genau diese inhaltliche Auffassung prägt die jeweiligen Projekte. Anhand von vielen Fallstudien veranschaulicht dies der besondere Reisebericht von Slobodian. Er beginnt in Hongkong und geht dann über London nach Singapur. Weitere Stationen bilden Südafrika, die USA und Liechtenstein. Und schließlich wird auch der Blick auf Somalia, Dubai und erneut die USA geworfen. Überall bildeten sich mehr oder weniger große Enklaven, worin ein Marktradikalismus das soziale Miteinander prägte. Als Begriff dafür wird "Splitterkapitalismus" benutzt, "Crack-Up Capitalism" lautet auch der englischsprachige Originaltitel.

Es gehe bei all dem um eine Abspaltung in demokratie- wie sozialstaatsfreie Zonen. Derartige Beobachtungen werden in einem lockeren Reportagestil vermittelt. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit primär auf die Wirtschaftspolitik. So gelingt es dem Autor, die gemeinten Entwicklungsprozesse gut zu veranschaulichen. Er baut in die Darstellung auch informelle ideengeschichtliche Exkurse ein, wozu die Ausführungen zu Hayek, Ann Rand oder Rothbard zählen. Deutlich werden auch Kontinuitäten zu früheren Politikern wie Ronald Reagan oder Margaret Thatcher. Aber genau diese Gesichtspunkte finden nur kurzes Interesse, hat sich der Autor doch offenbar durch die Beschreibung der Fallbeispiele zu sehr hinreißen lassen. Damit wird aus dem antidemokratischen Gefahrenpotential nur ein inhaltlicher Randaspekt. Auch fehlt dem Band gegen Ende eine systematische Einordnung, wirkt er doch wie ein journalistisches Sachbuch. Dies wirft indessen einen beachtenswerten kritischen Blick auf eine bedenkliche Entwicklung für die nahe Zukunft.

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